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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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geschlichen, etwas, das mir vertraut
war: Es war der Schmerz, der durch das Gefühl entsteht, bei einem unfairen
Vergleich schlecht weggekommen zu sein.
    »Flausen
eben.« Die pinkfarbenen Fingernägel einer Hand flatterten zu ihrer Turmfrisur,
und ich fürchtete schon, sie würde nicht mehr dazu sagen. Sie betrachtete die
Tür. Ihre Lippen bewegten sich, während sie die verschiedenen Antwortmöglichkeiten
durchging. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, schaute sie
mich an. Die Kassette war abgelaufen, und es herrschte eine sonderbare Stille
in dem Friseursalon. Es war, als gäbe die Abwesenheit von Musik dem Haus
Gelegenheit zu ächzen und zu seufzen und sich erschöpft über die Hitze, den
Geruch und den Tribut zu beklagen, den die Zeit von ihm forderte. Tante Rita
reckte das Kinn vor und sagte langsam und deutlich: »Sie ist als der reinste
Snob zurückgekommen. So, jetzt ist es raus. Als sie ging, war sie eine von uns,
und als sie zurückkam, wollte sie was Besseres sein.«
    Etwas, das
ich immer gespürt hatte, nahm Gestalt an: die abschätzige Art, wie mein Vater
von meiner Tante, meinen Vettern und Kusinen, ja sogar von meiner Großmutter
sprach, in gedämpften Wortwechseln zwischen ihm und meiner Mutter, die
unterschiedliche Art, wie bei uns zu Hause und bei Tante Rita alles gehandhabt
wurde ... Meine Eltern waren Snobs, und ich schämte mich für sie und auch für
mich, aber dann war ich seltsamerweise sauer auf Rita, weil sie es
ausgesprochen hatte, und schämte mich, weil ich sie dazu gedrängt hatte. Das
weiße Beutelchen, das ich gerade in Arbeit hatte, verschwamm vor meinen Augen.
    Tante Rita
dagegen war plötzlich gut gelaunt. Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht
geschrieben. Die unausgesprochene Wahrheit war ein Abszess, der jahrzehntelang
darauf gewartet hatte, dass jemand ihn öffnete. »Bücherwissen«, schnaubte Rita,
während sie ihre Zigarette ausdrückte, »von was anderem hat sie nicht mehr
geredet, als sie wieder da war. Sie hat nur noch die Nase gerümpft über die
kleinen Zimmer in unserem Haus und über Dads Arbeiterlieder, und dann hat sie
sich in der Leihbücherei einquartiert. Hat sich mit irgendeinem Buch in einer
Ecke versteckt, wenn sie eigentlich im Haus helfen sollte. Und dann hat sie
auch noch angefangen rumzuspinnen, sie wollte für die Zeitung schreiben. Sie
hat sogar Sachen eingeschickt! Kannst du dir das vorstellen?«
    Mir fiel
buchstäblich die Kinnlade herunter. Meredith Burchill schrieb keine
Geschichten, und sie hatte erst recht nichts an Zeitungen geschickt. Zuerst
dachte ich, Rita würde übertreiben, aber was sie sagte, war so vollkommen
verblüffend, dass es nur wahr sein konnte. »Ist denn irgendetwas davon
gedruckt worden?«
    »Natürlich
nicht! Genau das meinte ich ja: Das sind die Flausen, die die ihr in den Kopf
gesetzt haben. Sie hat sich auf einmal für was Besseres gehalten, und wohin so
was führt, das weiß man ja.«
    »Was waren
das denn für Geschichten, die sie geschrieben hat? Wovon handelten sie?«
    »Keine
Ahnung. Sie hat sie mir nie gezeigt. Wahrscheinlich hat sie gedacht, ich würde
sie sowieso nicht verstehen. Aber ich hätte auch gar keine Zeit dazu gehabt, da
hatte ich nämlich Bill gerade kennengelernt, und kurz darauf hab ich hier
angefangen. Es war schließlich Krieg, nicht wahr.« Rita lachte, aber die
Verbitterung ließ die Falten um ihren Mund schärfer hervortreten. Sie waren
mir bisher nie aufgefallen.
    »Hat
irgendjemand von der Familie Blythe sie mal in London besucht?«
    Rita
zuckte die Schultern. »Merry war furchtbar geheimniskrämerisch, seit sie
wieder zurück war. Sie ist dauernd losgezogen, ohne uns zu sagen, wo sie
hinwollte. Sie hätte sich mit sonst wem treffen können.«
    War es die
Art, wie sie das sagte, eine Andeutung, die in den Worten verborgen lag? Oder
war es die Art, wie sie plötzlich meinem Blick auswich? Ich bin mir nicht
sicher. Wie auch immer, ich wusste sofort, dass hinter ihren Worten mehr
steckte. »Mit wem denn, zum Beispiel?«
    Rita
betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Beutelchen in dem Karton, den
Kopf schief gelegt, als hätte sie noch nie etwas so Interessantes gesehen wie
diese sauberen weißen und silbernen Reihen.
    »Tante Rita?«,
sagte ich gedehnt. »Mit wem hätte sie sich treffen sollen?«
    »Also
gut.« Sie verschränkte die Arme, sodass ihre Brüste zusammengequetscht wurden,
dann schaute sie mich an. »Er war Lehrer, das war er zumindest vor dem Krieg
gewesen; in der

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