Mosaik
Kummer überwinden.«
Vor Kathryns innerem Auge entstand das Bild einer
verschlossenen Tür. Sie wollte Phoebe darauf hinweisen, daß sie sich erst erholen konnte, wenn es ihr gelang, jene Tür zu öffnen.
Doch dann begriff sie, daß sie eigentlich gar nicht wußte, was das bedeutete. Phoebes Worte hallten tief in ihrem Innern wider, und einige Sekunden lang sträubte sich Kathryn gegen die in ihnen enthaltene Wahrheit. Doch dann war sie nicht mehr imstande, noch länger Widerstand zu leisten – die Realität holte sie ein.
Ihre Schwester hatte recht. Auf diese Weise konnte es nicht weitergehen. Ganz gleich, wie sie sich verhielt: Sie konnte ihren Vater und Justin nicht aus dem Jenseits zurückholen. Also war es tatsächlich besser, das Leben fortzusetzen.
Aber wie? Wenn sie im Bett lag und die Augen schloß… Dann wich der Schmerz von ihr. Hier draußen, in der Kälte des Winters, fühlte Kathryn ein Elend, das irgendwo in ihrer Magengrube wurzelte, um dann emporzusteigen, sich
auszudehnen und den ganzen Körper zu beanspruchen. Sie spürte, wie ihr übel wurde. Sie sehnte sich danach, unter die warme Decke zu kriechen, die Augen zu schließen.
Phoebes Hand schloß sich fest um ihren Arm. »Ich bin hier, um dir zu helfen«, sagte sie. »Jetzt bist du vielleicht böse auf mich, weil ich dich so sehr unter Druck setze, aber eins verspreche ich dir: Ich bleibe bei dir und lasse nicht locker.«
Kathryn schwankte im grellen Sonnenlicht, als sich in ihrem Bauch etwas zusammenkrampfte und die Übelkeit noch
schlimmer wurde. Sie griff nach Phoebes Hand, hielt sie wie einen Rettungsanker.
Vier Tage später zog ein heftiger Wintersturm über die weite Ebene. Schon am frühen Nachmittag wurde der Himmel bleigrau, und die Temperatur sank rapide. Es begann zu schneien, als Kathryn, ihre Mutter und Phoebe beim Abendessen saßen. Durch die breiten Fenster des Eßzimmers blickten sie ins wogende Weiß des Schneesturms.
Während der vergangenen vier Tage hatte sich Kathryn von ihrem Zimmer ferngehalten und es nur aufgesucht, um dort die Nacht zu verbringen. Doch eine seltsame Ironie des Schicksals wollte es, daß sie jetzt nicht mehr schlafen konnte, stundenlang wach lag und versuchte, nicht an Justin und ihren Vater zu denken, die im dunklen, eisigen Wasser eines fernen Planeten ums Leben gekommen waren: ihr Fleisch verschlungen von exotischen Fischen, die bleichen Knochen eins mit dem Schlamm am finsteren Meeresgrund.
Die Gedanken an sie kehrten immer wieder zurück, verlangten immer wieder nach Aufmerksamkeit. Es fiel Kathryn leichter, sich Edward Janeway und Justin Tighe tot vorzustellen, als vor dem inneren Auge Szenen von den Umständen ihres Todes zu betrachten. Hatte die Wucht des Aufpralls sie getötet? Oder waren sie bewußtlos gewesen, um zusammen mit dem Rumpf des Schiffes im Meer zu verschwinden und zu ertrinken? Hatten sie vielleicht zuerst überlebt, in einer Luftblase, um dann ganz langsam zu erfrieren?
Nein, Kathryn sah lieber bleiche Skelette, stumm und reglos.
Morgens fühlte sie sich ausgelaugt, aber Phoebe schenkte ihrer Erschöpfung keine Beachtung. Sie frühstückten, aßen zu Mittag und zu Abend, spielten Tennis und wanderten, besuchten auch ihre alte Schule, die ›Wiesen‹. Kathryn versuchte, allen Anforderungen gerecht zu werden, die man an sie stellte. Mit jeder verstreichenden Stunde wuchs ihre Müdigkeit, und die ganze Zeit über fürchtete sie sich vor einer weiteren schlaflosen Nacht, die Erinnerungen brachte.
Sie wies Phoebe nicht darauf hin, daß ihr Plan letztendlich scheitern mußte – ihrer Mutter bedeuteten die Bemühungen ganz offensichtlich viel. Nie hatte sie etwas anderes gezeigt als Liebe und Großzügigkeit, und Kathryn wollte ihr keinen neuen Kummer bescheren. In einigen Wochen würde sie sich beim Starfleet-Hauptquartier zum Dienst melden und um Versetzung zu einer fernen wissenschaftlichen Station bitten; dort konnte sie so oft und so lange schlafen, wie sie wollte.
Beim Abendessen bemühten ihre Mutter und Phoebe sich um eine ungezwungene Konversation. Kathryn beschloß, an dem Gespräch teilzunehmen, und die Erleichterung in den Zügen ihrer Mutter war Lohn genug. Doch etwas später starrte sie aus dem Fenster ins weiße Tosen und spielte mit dem Gedanken,
hinauszugehen und zu wandern, so wie damals, als sie nach dem verlorenen Tennismatch aufbrach und sich von der Nacht verschlingen ließ. Die Vorstellung, im Schneesturm einfach zu verschwinden, übte einen immer
Weitere Kostenlose Bücher
Die vierte Zeugin Online Lesen
von
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg