Moser Und Der Tote Vom Tunnel
mit dem Fritz, meinem Lehrbub, beschäftigt war, die Bestellungen für die nächste Proviantlieferung aufzuschreiben. Erst als der Kölsche-Heiner blutend durch das Lager lief und laut schrie, wurde mir klar, was passiert war. Wenig später rannten die ersten Kameraden zu mir und Fritz in die Baracke und wollten heißes Wasser zur Versorgung der Verletzten. Fritz und ich haben pausenlos Wassereimer abgefüllt. Irgendwann kam dann der alte Kopp und meinte, dass die draußen jeden Mann brauchen würden. Habe den Fritz halt allein gelassen und bin mit raus zur Unglücksstelle …«
»Hat Sie dort jemand gesehen?«, fragte Sehnert.
»Ja, die müssen mich doch alle gesehen haben. War bis kurz vor fünf dort und habe geholfen. Und dann haben die sich tatsächlich beschwert, dass das Abendessen nicht rechtzeitig fertig war …«
»Das kann ich bestätigen«, meinte Kettenring, »ich habe unseren Koch tatsächlich schon kurz nach meinem eigenen Eintreffen an der Unglücksstelle gesehen. Er hat wie immer nur geredet, aber nichts getan. Zweifellos war er die ganze Zeit dort.«
»Das sage ich doch! Ich kann diesen Ungarn nicht umgebracht haben. Ich war es nicht!«, schrie Jung.
Moser glaubte von Anfang an nicht wirklich daran, dass Jung der Mörder von Somody sein sollte, und war nicht sonderlich verwundert, als dieser ein Alibi vorweisen konnte. Da Somody unmittelbar nach dem Unglück von einigen Kameraden lebend in der Baracke gesehen wurde, wie Greiner bei seiner ersten Befragung erfahren hatte, kam Jung als Mörder nicht infrage. Sehnert war dagegen sichtlich verärgert über das Ergebnis.
»Jung, auch wenn Sie nicht der Mörder sind: Ich verhafte Sie trotzdem wegen Beteiligung an einem Waffenschmuggel mit politischer Motivation!«, verkündete Moser. »Burkhardt soll reinkommen und diesen Vogel mitnehmen.«
Auf dem Weg nach Dahn setzte der Wagen der Gendarmerie Moser und Sehnert am Bahnhof Kaltenbach ab.
Während der ganzen Rückfahrt nach Pirmasens sprachen die Männer nur wenig. Beiden war klar, dass es nach wie vor fraglich schien, ob dieser Fall jemals aufgeklärt werden würde.
Moser schlug Sehnert vor, zu Fuß vom Bahnhof zum Hotel Lamm zu gehen, das ohnehin auf Sehnerts Nachhauseweg lag. An der Tür des Hotels verabschiedete sich der Kriminalrat mit den Worten: »Sehnert, nachdem es weder Tschulnigg noch Trautmann oder Jung waren: Es bleibt nur Müller übrig. Er muss es gewesen sein. Nur fehlen uns bisher die Beweise. Auch wenn morgen Sonntag ist, ich will ihn noch einmal in die Mangel nehmen …«
Selbst wenn seine Vermutung stimmte, war Moser nach wie vor das Motiv, das Müller für den Mord gehabt haben könnte, unklar. Nur sagte er dies Sehnert nicht.
Moser beschloss nach dem Abendessen, einen Spaziergang durch die laue Septembernacht zu unternehmen und sich auf dem Weg die Strategie für sein morgiges Verhör zu überlegen. Nach wie vor hatte er keine Beweise. Moser kam auf seinem Gang in Stadtteile, in denen er noch nie war.
In der Winzler Straße
Auf dem Weg durch die Hauptstraße lief Moser an der unteren protestantischen Kirche vorbei. Er hatte gehört, in dieser Kirche soll der Stadtgründer beerdigt sein. Ihm fiel ein, dass er damals, als er sich 1849 schon einmal in Pirmasens aufhielt, wunderte, wie allgegenwärtig der Landgraf auch sechzig Jahre nach seinem Tod immer noch in der Stadt war. Jedes Kind kannte seinerzeit den Namen des Stadtgründers und dessen Grab in der Kirche. Nur Moser hatte kein Glück, die Grabstätte besichtigen zu können, da das Kirchenportal grundsätzlich abgeschlossen war, wenn er die Gelegenheit zu einer Besichtigung hatte.
Er schaute auf seine Taschenuhr; es war schon fast acht. Um diese Uhrzeit war die Kirche sicher verschlossen, so probierte er gar nicht erst, die Klinke des Portals niederzudrücken, sondern bog in die steil abfallende Pfarrgasse ein.
Der Kriminalrat schlenderte die Gasse hinab in den ältesten Stadtteil, wo die verwinkelten Häuser ärmlich und grau erschienen.
Ein großes altes Gebäude an der Sandgasse erweckte sein Interesse. Es machte einen heruntergekommenen Eindruck, über der Toreinfahrt prangte jedoch das landgräfliche Wappen. Moser dachte, dass dieses Bauwerk in seinen besseren Tagen eine recht großzügige Kaserne gewesen sein musste. Heute war es offensichtlich von zahlreichen Fabrikarbeitern bevölkert. Über den Hof zog sich eine große Wäscheleine, in einem kleinen Stall hörte man Hühner gackern.
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