Moskauer Diva
Nasenwurzel zusammengewachsene Brauen. Der Haltung nach zu urteilen war er ein Militär. Erast Petrowitsch fotografierte ihn – allerdings nicht mit dem Fernglas. Zum unauffälligen Fotografieren aus kurzer Distanz besaß er eine Detektivkamera von Stirn: eine unter der Kleidung befestigte flache Schachtel mit einem hochlichtempfindlichen Objektiv, das als Knopf getarnt war. Das Unbequeme an dieser wunderbaren Erfindung war jedoch, dass man sie nur einmal benutzen konnte, und bald überzeugte sich Fandorin, dass er das Foto umsonst vergeudet hatte. Der Kaukasier zeigte nicht das geringste Interesse für Mr. Swist und nahm keinen Kontakt zu ihm auf. Kurz nach fünf, als die Probe zu Ende war, kamen die Schauspieler heraus. Als Elisa auftauchte, begleitet von Prostakow und der Klubnikina, versteckte sich der verdächtige Typ.
Fandorin schaute begierig durch sein Ferngals. Die Frau, die ihn seiner Harmonie beraubt hatte, war heute blass und traurig, aber dennoch unaussprechlich schön. Sie winkte mit der Hand, um ihr Automobil fortzuschicken. Zusammen mit den beiden anderen lief sie in Richtung Ochotny Rjad. Offensichtlich wollten sie zu Fuß zum Hotel gehen.
Der Mann im Rohseidenmantel folgte den Schauspielern, und Erast Petrowitsch vermutete, dass es sich um einen weiteren Verehrer handelte. Er hatte gewartet, bis die Schöne auftauchte, und nun würde er sich an ihre Fersen heften, vergehend vor Hingabe.
Nein, ich werde in diesem Ensemble nicht mittanzen, dachte Fandorin wütend und zwang sich, das Fernglas von Elisas zierlicherSilhouette auf das hässliche Lehmgesicht von Lipkow zu richten.
»Es wäre allmählich an der Zeit, nach Hause zu gehen, mein Freund. Wozu sich so im Dienst aufreiben?«, flüsterte Erast Petrowitsch.
Mr. Swist, als hätte er das gehört, winkte kurz, und ein geschlossener schwarzer Ford, der zuvor neben dem Springbrunnen gestanden hatte, fuhr vor. Die Pinscher stürzten zum Wagen. Der eine riss die Tür auf, der andere schaute sich nach allen Seiten um. Dann stiegen alle drei ein.
Fandorin ließ den Motor an, bereit, dem Ford zu folgen. Er unterdrückte ein Gähnen. Die Sache näherte sich ihrem Ende. Gleich würde er herausfinden, wo Zar seine Höhle hatte.
Doch weit gefehlt!
Als der Ford losfuhr, versperrte ein weiteres Automobil die Fahrbahn, ein offener Packard. Darin saßen drei kräftige junge Männer vom selben Typ wie Lipkows Leibwächter. Die Schreie der Kutscher und die Autohupen ignorierend, ließ der Fahrer des Packard Swist erst um die Ecke biegen, bevor er behäbig losfuhr. Fandorin hätte natürlich auch diesem Wagen folgen können – er fuhr bestimmt dieselbe Strecke, aber das Risiko war zu groß. Er musste auf die mobiliserte Beschattung verzichten. Die Wachleute im Packard würden den aufdringlichen Isotta garantiert bemerken – genau zu diesem Zweck wurde Swist ja von einem zweiten Automobil begleitet.
Der Tag war also sinnlos vergeudet. Abgesehen davon, dass Fandorin sich davon überzeugt hatte, dass das gesteckte Ziel nicht so leicht zu erreichen war. Und dass er ein paar Sekunden lang Elisa betrachtet hatte.
Plötzliche Hindernisse waren für Erast Petrowitsch stets lediglich ein Anlass, zusätzliche Ressourcen seines Intellekts zu mobilisieren.So geschah es auch diesmal, wobei gar keine besonderen Anstrengungen erforderlich waren. Die Aufgabe war ja nicht allzu kompliziert, und eine neue Lösung fand sich schnell.
Am nächsten Tag fuhr er zusammen mit Masa ins Theater. Nach den von Stern aufgestellten Regeln musste ein Repertoirestück jeden Tag geprobt werden. Laut Noah Nojewitschs Lehre war die Premiere nur der Beginn der eigentlichen Arbeit, jede neue Vorstellung musste vollkommener sein als die vorherige.
Herr und Diener frühstückten in Grabesstille und schwiegen auch auf der ganzen Fahrt zum Theater, wobei Masa demonstrativ aus dem Fenster sah. Der Japaner war noch immer beleidigt, weil Erast Petrowitsch ihn nicht in den Gang der Ermittlungen einweihte. Gut so, dachte Fandorin. Er verspürte bislang kein Bedürfnis nach Versöhnung.
Zu Beginn der Probe, als die Person, die Fandorin besonders interessierte, frei war, tat er, wozu er hergekommen war.
Er wollte mit Konstantin Lowtschilin reden, dem Darsteller des Diebes.
»Sind Sie ein Informant?«, fragte Erast Petrowitsch ohne Umschweife und führte den Schauspieler in den Flur.
»Wie bitte?«
»Arbeiten Sie für Zarkow? Streiten Sie es n-nicht ab. Zehn Tage vor der Premiere habe ich die
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