Motiv Angst
konnte. Aber als sie sah, wie Jans Lippen zu zittern anfingen, schluckte sie ihre Worte runter und verlieà das Zimmer.
âDankeâ, murmelte Jan seinem Vater zu. Der bekam plötzlich einen ganz ernsten Gesichtsausdruck.
âSchon gut. Aber heute Nachmittag reden wir!â Seine Stimme lieà keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Worte zu. Kurze Zeit später hörte Jan endlich die Haustür ins Schloss fallen. Eine Weile blieb er noch regungslos im Bett liegen, bis er die Autos seiner Eltern aus der Einfahrt hinausfahren hörte. Dann sprang er aus dem Bett und zog sich an. Jan rannte die Treppe hinunter und suchte im Büro seiner Mutter nach dem Telefonbuch. Wolf! Er wusste Victors Nachnamen. Er hatte ihn gestern gehört, ganz klar und deutlich hatte Frau Gehrmann ihn ausgesprochen: âFrau Bender hat den Namen Victor Wolf erwähnt ... hat er etwas damit zu tun?â Victor Wolf. Jan fand das Telefonbuch in der Schreibtischschublade seiner Mutter, er klappte es auf und lieà seine Finger über die zahllosen W wandern. Zum Glück gab es den Namen Wolf nur dreimal. Einmal mit den Vornamen Anja und Peter, einmal nur mit der Initiale P. davor und einen Eintrag mit dem Namen Michael. Bei Anja und Peter Wolf meldete sich nur der Anrufbeantworter, der freundlich mitteilte, dass Anja und Peter mal wieder nicht zu Hause seien, jedoch gerne zurückrufen würden. Bei P. Wolf meldete sich lange Zeit niemand. Jan wollte schon wieder auflegen, als am anderen Ende plötzlich doch jemand abhob. Ein älterer Herr, der Jan freundlich mitteilte, dass alle âauf Arbeitâ wären und er der Opa sei. Einen Victor gäbe es aber in seiner Familie nicht. Bevor er auflegte, wünschte er Jan noch viel Glück bei der Suche und einen schönen Tag. Also Michael Wolf. Mit zittrigen Fingern tippte Jan die Zahlen ein. Schon nach dem dritten Klingelton wurde am anderen Ende abgenommen.
âJA!â
In diesen zwei Buchstaben lag so viel Wut, dass Jan am liebsten sofort wieder aufgelegt hätte. Aber er hatte sich etwas vorgenommen und das würde er auch durchziehen â bis zum Ende!
âÃhm, also ... bitte ... könnte ich wohl Victor sprechenâ, stotterte er ins Telefon. Er war sich ganz sicher, dass Victor um diese Zeit in der Schule war. Jan wollte nur herausfinden, wo Victor wohnte und was an den Gerüchten dran war, die Marvin ihm gesteckt hatte. Doch als im nächsten Moment der Hörer auf etwas Hartes geknallt wurde und eine hasserfüllte Männerstimme grölte: âHey, du faules Arschloch. Schwing deinen dummen Arsch aus dem Bett, da will dich einer sprechen!â, bekam Jan kaum noch Luft vor Schreck.
Eigentlich wollte er sofort auflegen. Auf keinen Fall durfte Victor erfahren, dass er bei ihm angerufen hatte. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab und kurz darauf hörte er eine andere Stimme am Telefon âJa?â sagen. Die gleichen zwei Buchstaben, doch so leise und ängstlich gesprochen, dass Jan fast nicht glauben konnte, dass es sich bei dem Jungen am anderen Ende der Leitung tatsächlich um Victor handelte.
âWer ist denn da?â Doch, das war eindeutig Victors Stimme. Wenn auch völlig anders, als Jan sie in Erinnerung hatte.
âHallo ... wer ist denn da?â Victor klang so verängstigt und hilflos, dass Jan schon fast in Versuchung geriet zu antworten, als plötzlich wieder die Männerstimme im Hintergrund zu hören war.
âScheiÃkerl! â EY! â Was will der Typ von dir? EY! â Kriegt man in diesem Saupuff gefälligst mal ´ne Antwort?â
Dann hörte Jan ein lautes Poltern, als ob etwas zu Boden gerissen wurde, und im nächsten Moment riss die Verbindung ab.
Jan starrte auf den Telefonhörer in seiner Hand, sein Herz raste und in seinem Kopf dröhnten noch immer die fiesen Worte des Mannes. War das Victors Vater?
Ich bin ein Täter, hat meine Klassenlehrerin gesagt. Und der Rektor meinte, wenn ich nicht sofort damit aufhöre, fliege ich von der Schule. Die haben ja echt keine Ahnung. Am liebsten würde ich denen mal erzählen, was bei uns zu Hause abgeht. Mal sehen, ob die dann immer noch meinen, ich wäre der Täter
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San, 10 Jahre alt, Hauptschüler
O PFER , T ÃTER , W EGSCHAUER
In den folgenden zwei Wochen, in denen Jan seine Eltern glauben lassen konnte, dass wirklich alles in bester Ordnung wäre, seine Mutter dennoch immer besorgter
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