Mottentanz
alles zu erzählen. »Ich habe nicht geglaubt, dass ich sie auf der Party treffe, sondern…« Ich sprudele die Geschichte so schnell ich kann hervor, damit ich die Worte nicht zu lange im Mund behalten muss. »Ich habe einer Menge Leute ein
Foto von ihr gezeigt, aber niemand kannte sie. Ich dachte, wenn ich den Typen finde, der den Karton gebracht hat, kann er mir vielleicht sagen, wo sie ist, oder mich zu jemandem bringen, der es weiß.« Ich schaue wieder zu Sean rüber, aber der hält den Blick auf die Straße gerichtet. »Ich habe mich getäuscht.« Meine Augen füllen sich mit Tränen, aber ich blinzele sie weg. »Wahrscheinlich sah ich deshalb so traurig aus.«
»Das ist ein ziemlich triftiger Grund«, sagt er.
»Meine beste Freundin Amanda ist der Meinung, dass ich mit der Sache abschließen soll. Mich nicht mehr so stark auf meine Schwester konzentrieren, sondern lieber so tun, als hätte es sie nie gegeben oder so. Sie ist seit zwei Jahren verschwunden und es hat sich nichts geändert.« Ich atme langsam ein und aus. »Vielleicht hat sie ja recht, vielleicht sollte ich wirklich aufgeben.« Ich starre auf meine Hände. »Aber ich weiß nicht, wie.«
Sean schweigt. Und wir starren beide auf den Regen, der auf den Boden prasselt.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, warum wir uns begegnet sind«, sagt er schließlich. Und dann spüre ich, wie seine Hand sanft meine umschließt, die auf dem Sitz zwischen uns liegt. »Es gibt Dinge, über die kommt man nicht einfach so hinweg. Es geht einfach nicht«, sagt er. »Und wenn dir so etwas passiert, ist es egal, wie viel Zeit seitdem vergangen ist, ob du alleine in deinem Zimmer sitzt oder mit hundert Leuten eine Party feierst. Es ist sogar egal, ob du gerade daran denkst oder was du gerade tust, denn es ist immer da. Es ist nicht mehr nur etwas, das dir passiert ist, sondern es ist ein Teil von dir geworden.«
Dann macht er den Mund zu und fährt weiter. Er hat es genau getroffen. Niemand, mit dem ich bisher darüber geredet habe, hat wirklich kapiert, wovon ich rede.
Er dreht den Kopf in meine Richtung, unsere Blicke treffen sich. Ich sitze nur da und blinzele ungläubig. Er grinst, legt lässig den Kopf zur Seite und sagt achselzuckend: »Oder so.« Ich muss lachen, und es ist ein echtes, prustendes Lachen. So habe ich schon sehr lange nicht mehr gelacht. Und er lacht mit mir. Am komischsten sind immer die Sachen, die gleichzeitig auch traurig, absurd und wahrhaftig sind.
»Du weißt also, wovon ich spreche?«, frage ich.
»Ich glaube schon.«
»Woher weißt du, wie sich das anfühlt? Was ist dir passiert? «
Sobald die Worte meinen Mund verlassen haben, wünsche ich mir, ich könnte sie wieder zurücknehmen. Ich will auf keinen Fall, dass er denkt, ich interessiere mich nur für die Tragödie, die er erlebt hat. So ergeht es mir viel zu oft mit Neugierigen. »Sorry«, murmele ich. »Darauf musst du nicht antworten.«
Wir fahren vor dem Apartmentkomplex, in dem ich wohne, vor. Die Straßenlaternen beleuchten das Innere des Autos. Beleuchten Seans Gesicht.
»Siebzehn-zehn«, sage ich. »Da vorne rechts.« Und Sean fährt auf den Parkplatz vor meiner Haustür.
»Danke fürs Mitnehmen«, sage ich. Ich schaue aus dem Fenster. Es regnet so heftig, als wären wir unter Wasser. Es kommt mir vor, als sei ich in diesem Auto mit Sean am einzig sicheren Ort der Welt.
»Kein Problem«, sagt er.
Ich löse den Sicherheitsgurt. »Also… äh.« Ich sollte eigentlich aussteigen, aber mich lähmt die Erkenntnis, dass ich überhaupt nicht will . »Na ja… danke nochmals.« Ich bin mir selbst peinlich. Das ist lächerlich. Ich muss gehen.
Ich strecke die Hand in Richtung Türgriff aus und schaue noch ein letztes Mal zu ihm rüber. Unsere Blicke treffen sich, wieder durchzuckt mich der inzwischen vertraute Blitzschlag.
Sean holt tief Luft.
»Ich hatte einen Bruder«, sagt er. Sein Haar fällt ihm ins Gesicht und er schiebt es zur Seite. »Er ist gestorben.«
Mir stockt der Atem. Der Regen wird immer heftiger, in der Ferne höre ich Donner.
»Wie bitte?«, hauche ich.
Ich starre auf seinen Mund.
»Mein Bruder ist gestorben«, sagt er noch einmal. »Deswegen weiß ich das, was ich vorher gesagt habe.«
Ich halte mir die Hand vor den Mund. »Oh Gott.«
Er lächelt traurig. »Das ist schon lange her.« Er schaut zu Boden, blickt dann mit geröteten Wangen wieder auf. »Wenn es auch nur die geringste Chance gäbe, dass ich ihn wiedersehen könnte, dass ich irgendetwas
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