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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Weingarten
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leer«, sage ich. Die Tränen laufen mir die Wangen hinunter. »Ich kann niemanden anrufen, weil ich ihre Nummern nicht weiß.«
    »Du musst niemanden anrufen«, sagt Sean. »Du musst es niemand erzählen.«
    Und ich will ihm glauben. Ich versuche es. Aber ich weiß, dass ich irgendwann meine Mutter anrufen und ihr sagen muss, dass ihre Tochter tot ist. Und Amanda. Ich muss es ihr sagen. Und Brad. Und… ich weine heftiger. Wie soll ich in einer Welt leben, in der Nina nicht mehr existiert? Und will ich das überhaupt?
    Sean legt die Arme um mich, drückt mich an sich und legt meinen Kopf an seine Brust. »Wir müssen nicht wieder zurück«, flüstert er. »Wir müssen nie wieder zurück.«
    Ich kann nur nicken. Ich spüre, wie die Tränen stärker werden und Seans Hemd durchnässen, bis mein gesamtes Gesicht von ihnen nass ist.

Kapitel 35

    Sean schläft in seinem Bett, seine Wangen sind gerötet, seine Hände um den Rand seiner kratzigen braunen Decke gekrallt. Er lächelt, nur ganz leicht. Und ich bin wach und sehe ihm dabei zu.
    Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder schlafen werde. Die willenlose, tränennasse Traurigkeit von vorhin ist weg und wurde durch einen schweren, in meiner Mitte untergebrachten Klumpen ersetzt, dessen scharf gezackte Spitzen meine Eingeweide durchbohren und mit tausend Fragen füllen. Wer war der Mann, der sie getötet hat? Und wo ist er jetzt? Ist er am Leben? Ist er im Gefängnis? Und was ist mit diesem Freund, diesem Freund, für den sie gestorben ist? Wo ist er? Und wer ist er? Und was ist mit Nina? Musste sie jemand im Krankenhaus identifizieren? Und warum hat niemand jemals meine Mom angerufen? Und wo ist ihr Leichnam beerdigt? Ihr Leichnam . Ihr Körper, in dem sie sich nicht mehr länger befindet. Ihr Körper, der jetzt nur noch Fleisch ist.
    Die Tatsache, dass ich gerade diesen Gedanken hatte, erfüllt mich mit solch einem Entsetzen, dass ich nach Luft ringe. Ich führe die Hand zum Mund. Ich nehme die Hand wieder weg. Die blasse Skizze eines Monstergesichts bleibt
an der Innenseite meines Handgelenks – der Stempel von der Monster-Hands-Show. Das Album. Es befindet sich im Auto. Ninas Zeichnung. Ich muss hier raus, raus aus diesem Zimmer, ich kann nicht atmen. Ich stehe auf und laufe über den beigefarbenen, mit Wasser befleckten Teppich. Seans Jeans ist ordentlich gefaltet und liegt auf der Kommode. Ich greife in seine Hosentasche und nehme seine Schlüssel. Ich balle meine Faust um sie, damit sie nicht klimpern. Ich blicke ein letztes Mal zu Sean und schlüpfe aus dem Zimmer.
    Ich laufe über den Parkplatz auf Seans Auto zu. Halte an und schaue durchs Fenster. Das Album liegt auf dem Becherhalter zwischen den beiden Vordersitzen. Mein Herz pocht heftig. Ich schließe Seans Autotür auf und steige hinein, setze mich, greife nach dem Album. Ich entferne die Plastikschrumpffolie und nehme die Platte heraus – dunkelgrau geriffeltes Plastik mit großen, in noch dunklerem Grau gemalten Fingern an der Seite, als ob eine riesige graue Hand versuchte, danach zu greifen. Etwas flattert zu Boden. Die Songtexte, die mit dunkelgrauer Tinte auf zartes Reispapier gedruckt sind. Ich lese die Zeilen zum ersten Song.
     
    »Wo immer Nina liegt«
    Ihr Gesicht verändert sich, wenn sie denkt, du kannst sie nicht sehen.
    Sie starrt aus dem Fenster, immer wachsam, jemand verfolgt sie.
    Sie verdreht ihre Hände, zeichnet Bilder auf ihre Handgelenke, beißt sich auf die Lippen.
    Stell ihr eine Frage, sie schüttelt nur den Kopf, wird sie nicht beantworten.

    Sie weint nachts, immer weint sie nachts, sie denkt, du kannst sie nicht hören.
    Sag ihr nur, alles sei okay, aber du weißt, sie kann es nicht glauben.
    Frage sie, warum, und sie wird nur ihren Kopf schütteln.
    Sie sagt, eines Tages wird sie gehen, so weit sie kann.
    Sie sagt, eines Tages wird sie gehen, so weit sie kann.
     
    Und ich fühle, wie meine Lippen sich zu einem Lächeln kräuseln. Ich weiß, was diese letzte Zeile zu bedeuten hat, sogar mehr noch als derjenige, der sie geschrieben hat:
    Als Nina fünfzehn war und ich elf, waren wir ziemlich besessen von den merkwürdigen lokalen Werbespots, die spät, sehr spät in der Nacht im Kabelfernsehen liefen. Manchmal, wenn unsere Mom Nachtschicht hatte, sind wir bis eins, zwei, drei Uhr am Morgen wach geblieben und warteten darauf, dass sie liefen. Wir liebten den Spot für »Hammer Jones Eisenwaren« mit »Hammer Jones höchstpersönlich« in der Hauptrolle, und den für einen

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