Mottentanz
seine Brust, so dass ich sein Herz durch sein Hemd hindurch schlagen hören kann. »Dieser Teil deines Lebens ist nun vorbei«, sagt er.
Zurück im Zimmer falle ich in einen bleischweren Schlaf, der meine Glieder lähmt und meinen Kopf mit merkwürdigen Träumen füllt. Schnelle Lichtblitze in brillanten Farben, durchsetzt mit sich langsam bewegenden Bildern, fast weiß, wie ein Video, dass an einem zu sonnigen Tag gedreht wurde. Echte Erinnerungen und ausgedachte vermischen sich — Nina und ich essen bei einer Geburtstagsparty Kuchen mit unseren Händen. Nina und ich probieren Kleider bei Attic an. Sean und Nina spielen Fangen. Sean und ich liegen im Bett im Hotel. Sean steht auf einem Stuhl in genau diesem Hotelzimmer und schiebt etwas zwischen die Decken auf dem Wandschrank, er sieht nach unten, um sicherzugehen,
dass ich nicht wach bin und ihn beobachte. Nina und ich prosten uns in einem schicken Restaurant zu. Nina und ich laufen von zu Hause weg. Nina und ich in Frankreich. Nina in einem Auto zusammen mit Seans Bruder, sie fahren von dem Haus weg, in dem wir aufwuchsen, Nina winkt, winkt, winkt zum Abschied.
Kapitel 36
Ich habe nicht den Luxus des Vergessens. Es gibt keinen Moment der vollkommenen Ruhe, keinen Moment des Friedens, bevor die Realität mich einholt. Ich wache bei Sonnenaufgang auf und erinnere mich genau daran, wo ich bin, und genau, was passiert ist. Ich weine, noch bevor ich überhaupt die Augen geöffnet habe. Dies ist der erste Morgen mit der Gewissheit. Gestern erscheint benebelt, wie ein Traum, ein Traum voller Paranoia und Leugnen und dem Versuch, mich selbst davon zu überzeugen, dass die Realität nicht die Realität ist. An diesem Morgen aber bin ich mit klarem Kopf auf dem Boden eines Brunnens aufgewacht. Das ist wirklich echt. Das ist alles komplett echt. Und nun muss ich damit klarkommen.
Es ist an der Zeit, mit meiner Mutter zu sprechen.
Aus dem Badezimmer kann ich das Geräusch von Wasser hören. Die Dusche ist an.
Ich steige aus dem Bett. Auf dem Nachttischchen befindet sich ein beigefarbenes Telefon. Ich hebe das leicht klebrige Headset auf und halte es an mein Ohr. Wie finde ich ihre Nummer heraus? Ich habe sie von Seans Telefon aus angerufen, wann war das, vor zwei Tagen?
Sean singt unter der Dusche. Laut und fürchterlich. Sein Telefon blinkt auf dem Schreibtisch.
Ich klappe es auf und gehe zu den letzten Anrufen. Genau dort befindet sich die Nummer meiner Mutter. Ich halte es in meinen Händen, wärend ich die Nummer 7-7-3-5-5-5-7-6-4 wähle … Ich will gerade die letzte Ziffer eingeben, als mir etwas Merkwürdiges auffällt. Etwas so Merkwürdiges, dass mein Herz anfängt zu pochen, noch ehe ich fertig gedacht habe. Die letzten Anrufe. Dort befindet sich ein eingehender Anruf von Unbekannt, den ich letzte Nacht im Auto beantwortet habe. Und davor gibt es einen Anruf auf die Mailbox. Und dann ist da mein Anruf an meine Mutter von vergangenem Dienstagmorgen. Und wiederum davor gibt es eine Nummer, die Sean am Samstag angerufen hat, ein paar Stunden, nachdem wir nach Nebraska aufgebrochen waren. Die Nummer kommt mir merkwürdig bekannt vor.
Doch zwischen meinem Anruf bei meiner Mutter und dem Anruf, den ich letzte Nacht entgegengenommen habe, gibt es keinen weiteren bis auf den einen Anruf auf die Mailbox gestern gegen halb fünf. Um den zeitlichen Dreh herum erzählte mir Sean, Nina wäre tot.
Ein Anruf auf die Mailbox, als Sean sagte, er würde die Nummer des Ermittlers wählen.
Wann genau hat Sean also mit dem Ermittler gesprochen?
Ich bin sicher, hierfür gibt es eine vernünftige Erklärung. Ich bin mir ganz sicher. Es muss einfach eine geben.
Mein Herz schlägt nun heftiger. Das Telefon fängt wieder an, in meiner Hand zu blinken. Die nicht sichtbare Nummer ruft wieder an. Und ich denke nicht. Ich gehe einfach ran.
»Hallo?«, flüstere ich. Für einen Moment höre ich nichts. Und dann eine Stimme, die zurückflüstert.
»Bist du allein?«
Ich blicke zur Badezimmertür. Das Rauschen von Wasser ist meiner Meinung nach nicht mehr zu hören. Ich glaube, die Dusche ist ausgeschaltet worden. Sean wird jede Sekunde hier sein.
»Bist du allein?«, fragt die Stimme erneut.
»Ja«, flüstere ich. Meine Hände schwitzen. »Wer ist da?«
»Ist das Ellie?«
Mein Herz setzt einen Moment aus. »Wer ist da?«, frage ich zum zweiten Mal.
»Du hast mich schon mal angerufen«, sagt die Stimme. »Du hast nach deiner Schwester gesucht. Ich heiße Max und ich
Weitere Kostenlose Bücher