Mottentanz
hämmert und hämmert. Ich sitze da wie erstarrt. Sean legt mir die Hände auf die Schultern und schüttelt sie sanft. Ich höre ein Gurgeln, als würde Wasser an meinem Kopf vorbeischießen. Und plötzlich kommen die Geräusche zurück. Laut, viel zu laut. Hupen. Lachen. Die Stimme eines College-Mädchens, die ihrer Freundin etwas von Zwiebelringen erzählt.
»Es tut mir leid, ich habe dich nicht gehört«, sage ich zu Sean. Und ich lächle. Es ist nämlich ziemlich komisch, mitten auf einem Parkplatz plötzlich taub zu werden. Wirklich komisch.
»Der Detektiv hat herausgefunden, was mit Nina passiert ist«, sagt Sean. »Sie ist gestorben.« Er sieht mich wieder an. »Sie ist tot, Ellie.«
Und ich nicke. Denn wie sich herausstellt, hatte ich ihn beim ersten Mal richtig verstanden. Aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, denn irgendjemand schreit plötzlich, einen schrillen, kreischenden Schrei, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ein Schrei, der so laut ist, dass sich alle in Richtung der Quelle umdrehen. Bei dem Geschrei kann man kaum denken. Und dann wird mir etwas klar. Da schreit nicht irgendjemand. Da schreie ja ich.
Kapitel 31
Ich erinnere mich daran, wie ich eines Abends mit sieben Jahren ängstlich und verwirrt in meinem Zimmer lag und meinen Eltern beim Streiten zuhörte. Sie stritten ständig, aber an jenem Abend war es so laut, dass ich jedes Wort verstand. Mein Vater schrie, er werde sie verlassen, und meine Mutter schrie, er solle aufhören, damit zu drohen, sondern abhauen und zur Hölle fahren.
Ich war noch so klein, dass es mich enorm schockierte und mir die Tränen in die Augen trieb, meine Mutter »Hölle« sagen zu hören.
Nachdem ich mich stundenlang im Bett herumgewälzt hatte, öffnete sich meine Tür und Nina kam herein. Ich weiß noch, wie sie in ihrem Schlafanzug vor meinem Nachtlicht aussah. Ohne ein Wort nahm sie meine Hand und führte mich zuerst auf den Flur und dann ins Badezimmer. Sie schloss die Tür hinter uns und schaltete das Licht ein. Sie trug ihre orangefarbenen Plüsch-Ohrenwärmer und hielt meine grünen in der Hand. Sie zog sie mir über die Ohren und drehte dann die Dusche auf. Aber die Schreie meiner Eltern waren so laut, dass wir sie trotz alledem noch hören konnten.
Also drehte sie sich mit ihren Ohrenwärmern zu mir um, das Wasser rauschte auf die Antirutsch-Matte, und sie begann zu singen:
HAPPY BIRTHDAY TO YOU,
HAPPY BIRTHDAY TOOOO YOOOOOOU
Es war Ende September und ich habe im Februar Geburtstag, aber Nina sagte immer, »Happy Birthday« sei der beste Song der Welt, weil es der einzige Song war, den alle nur für einen selbst sangen. Und selbst wenn er nicht für dich bestimmt war, bedeutete es, dass man Kuchen bekam, wenn man ihn hörte.
HAPPY BIRTHDAY, LIEBE BELLLLYYYY …
HAPPY BIRTHDAY TOOOOO YOOOOU
Sie grinste mich an und begann von vorne.
HAPPY BIRTHDAY TO YOU,
HAPPY BIRTHDAY TOOOO YOOOOOOU
HAPPY BIRTHDAY, LIEBE BELLLLYYYY…
HAPPY BIRTHDAY TOOOOO YOOOOU
Ich weiß noch, wie meine Verwirrung und meine Traurigkeit weniger schmerzhaft wurden.
Und dann sang sie ein drittes Mal los:
HAPPY BIRTHDAY TO YOU,
HAPPY BIRTHDAY TOOOO YOOOOOOU
Ich stimmte ein. Inzwischen musste ich lächeln und die Welt ergab wieder einen Sinn. Na gut, meine Eltern waren verrückt. Na und? Das war egal, denn ich hatte eine große Schwester, eine große Schwester! Und sie würde sich um alles kümmern, wie sie es immer tat.
HAPPY BIRTHDAY, LIEBE NIIIIIIINAAAAAAAA
HAPPY BIRTHDAY TOOOO YOOOOOOOUUU
Wir sangen so laut wir konnten, aus voller Kehle, während das Bad sich mit Dampf füllte.
HAPPY BIRTHDAY TOOO YOOOOOOUUU
Wir sangen so lange, bis wir heiser waren und unsere Ohrenwärmer vom Dampf durchnässt. Wieder und wieder sangen wir und lächelten uns die ganze Zeit an.
Nach dem gefühlten millionsten Mal hörten wir schließlich auf, um Atem zu holen. Wir hörten niemanden mehr schreien. Nina öffnete die Badezimmertür einen Spaltbreit, um sich zu überzeugen. Kühle Luft wehte herein, Dampf entwich in den dunklen, stillen Flur.
Aber Nina schaute mich an, grinste und schloss die Tür. Und wir sangen einfach weiter.
Kapitel 32
Ich befinde mich außerhalb meines Körpers und schaue zu, wie Ellie, die gerade herausgefunden hat, dass ihre Schwester nicht mehr lebt, sich das Erbrochene vom Kinn wischt.
So reagiert Ellie, als sie erfährt, dass ihre Schwester tot ist: Sie schreit eine Zeit lang und dann kotzt sie auf den Asphalt.
Ellie will
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