Mottentanz
Führerscheinprüfung zum Supermarkt fährt und so lange mit dem Typen auf dem Parkplatz flirtet, bis er mir ein Eis und ihr ein Sixpack kauft. Nina, die sich um zwölf aus dem Haus und um fünf Uhr morgens zurück ins Haus schleicht, ein verschmitztes Grinsen auf dem Gesicht. Sie legt den Finger an die Lippen, schlüpft durch ihre Tür und zwinkert mir dabei zu.
Aber dann fallen die anderen Bilder in meinem Kopf ein, ohne Warnung und ohne Erlaubnis. Nina, die auf den Parkplatz eines Stripklubs rennt, eine Jacke über hohe Hacken
und Netzstrümpfe geworfen. Ihr Freund liegt auf dem Boden, ein Hüne tritt nach ihm. Nina hechtet nach vorne und wirft sich dem Typen auf den Rücken. Er taumelt nach vorne, dann nach hinten. Er schüttelt sie ab. Sie fällt zu Boden. Und dann? Ich kneife die Augen zusammen und wimmere leise. Ich will nicht daran denken, aber ich kann nicht aufhören. Sieht sie die Pistole? Hat sie Angst? Hält er sie ihr vors Gesicht und zwingt sie, sich zu entschuldigen, bevor er schießt? Oder ist es eine Überraschung, eine einzelne Kugel in den Hinterkopf, der brennende Schmerz ganz ohne Vorwarnung, ihr letzter Gedanke: »Was zum Teufel war das denn?«
Ich kann nicht glauben, dass dies die Realität ist. Es ist zu viel, viel zu viel. Die Tränen fließen heftiger.
Wir fahren wieder. Es ist später, ich weiß nicht genau, wie spät. Oder wo genau wir sind. Aber was macht das schon? Egal, wo ich hingehe, das wird von nun an die Wahrheit sein. Ich kann nicht davor flüchten, das wird mir niemals gelingen.
Ich weine noch eine Zeit lang und werde dann merkwürdig ruhig. Zwischen all den Tränen finde ich eine Blase der Leere und hebe den Kopf. Vor uns der Highway. So sieht der Highway für mich aus, seit ich weiß, dass meine Schwester tot ist. So fühlt es sich an, Auto zu fahren, seit ich weiß, dass meine Schwester tot ist. So atme ich, seit ich weiß, dass meine Schwester tot ist.
Ich wende mich Sean zu, der auf seiner Unterlippe herumkaut. Er will wohl etwas sagen, weiß aber nicht, ob er sollte. »Sprich«, sage ich.
Sean holt tief Luft. »Hätte ich es dir lieber nicht sagen sollen? Ich habe daran gedacht… ich dachte, wenn ich dich dazu bringen kann, die Suche aufzugeben …« Er legt eine Pause ein. »Hättest du es lieber nicht gewusst?«
Aber jetzt, da ich es weiß, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie es war, bevor ich es wusste. Ich bin seit heute Morgen, seit vor einer Stunde, hundert Jahre gealtert. Mir tut die arme, unschuldige Ellie von heute Morgen leid, die so naiv geglaubt hat, dass alles gut werden kann. Ich schüttele den Kopf. »Es wäre nur besser, wenn es nicht passiert wäre«, sage ich. Und als ich diese Worte höre, fange ich wieder an zu weinen.
Sean drückt tröstend mein Knie. »Ich habe das auch durchgemacht«, sagt er. »Ich bin bei dir, Ellie. Du bist nicht alleine. Ich verspreche dir, du wirst nicht alleine sein.«
Und ich nicke, denn zumindest dafür bin ich dankbar.
Kapitel 34
Wir sind jetzt in einem Motel namens Grand Canyon Cactus Lodge, ein paar Holzgebäuden, die einen Parkplatz umgeben. Es ist ganz anders als die schicken Hotels, in denen wir bisher gewohnt haben. Es ist nicht einmal touristisch. Hierher kommen Menschen, die sich Anonymität wünschen. Die sich verstecken wollen.
Ich sitze auf einem Bett, die nackten Beine auf einer kratzigen Wolldecke, der Rücken an einem schäbigen Kopfteil aus Sperrholz. Ich bin wieder so seltsam betäubt. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit dicker Watte ausgestopft, die irgendwie mein Gehirn vor meinen Gedanken schützt.
»Hast du Hunger?«, fragt Sean. Er ist neben mir, hält meine schlaffe Hand, schaut mich so besorgt an. Ich bin dankbar dafür, dass er hier ist und nichts von mir erwartet. Aber ich habe gerade nicht die Energie, ihm das zu sagen.
Ich schüttele den Kopf.
»Wenn ich dir etwas hole, isst du es dann? Ich glaube, ich habe vorher eine Pizzeria gesehen. Ich könnte an der Rezeption nach der Nummer fragen.« Er klopft seine Taschen ab, als suche er sein Handy. Er schaut ein bisschen verwirrt. »Oder wir könnten Brownies aus dem Automaten essen.«
Ich fange wieder an zu weinen. Nina hat Automaten geliebt.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, frage ich.
»Darüber musst du jetzt nicht nachdenken«, sagt Sean. »Ich denke jetzt für uns beide. Wein dich aus, ich kümmere mich um dich.«
Ich lehne mich zurück ins Kissen, in der Hand mein nutzloses Telefon.
»Mein Akku ist
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