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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Weingarten
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Fragen stellen, aber in diesem Moment fällt es ihr schwer, sich daran zu erinnern, was Worte sind und wie man sie mit dem Mund formt. Sie schließt die Augen, bis schließlich ein Wort den Weg von ihrem Gehirn zu ihrem Mund findet.
    »Wie?« Ist das wirklich das Wort, das sie gemeint hat?
    Sean legt seine Hände auf Ellies Schultern. Sie spürt es nicht. »Willst du das wirklich jetzt hören?«
    Ellie sagt: »Ja.«
    »Sie wurde getötet«, sagt Sean. Dann erschaudert er, anstelle von Ellie, die wie zur Salzsäule erstarrt dasitzt. »Sie lebte in Las Vegas und arbeitete…«, Sean zögert kurz, »als Stripperin. Sie ging mit einem Typen aus, der pokersüchtig war. Er war dafür bekannt, ziemlich irre Wetten abzuschließen. Manchmal gewann er mehrere Hunderttausend Dollar
an einem Abend. Manchmal verlor er alles. Einmal verlor er wirklich oft hintereinander und deshalb lieh er sich Geld von sehr unangenehmen Leuten. Er konnte es nicht zurückzahlen. Eines Nachts verprügelte ihn der Typ, dem er das Geld schuldete, ziemlich brutal auf dem Parkplatz des Klubs, in dem Nina arbeitete. Er wollte sie abholen und seine Gläubiger hatten ihm dort aufgelauert. Nina war ziemlich sauer und mischte sich ein. Die Kerle hatten Waffen…« Sean macht wieder eine Pause, als hätte er Angst davor, das Ende zu erzählen, als würde das alles wirklicher machen. Er holt tief Atem. »Sie wurde erschossen. Das war alles.«
    Sean schaut nach unten und dann wieder hoch. Sein Mund verzieht sich zu einer Grimasse des Schmerzes. Er fühlt sich wahrscheinlich schlechter als Ellie, denn die fühlt gerade eigentlich gar nichts. Es kommt ihr vor, als habe er ihr eine Geschichte über irgendwelche Figuren erzählt, eine Geschichte, die überhaupt nichts mit ihr zu tun hat. Sie weiß, dass sie etwas fühlen oder etwas tun sollte, aber sie kann sich überhaupt nicht daran erinnern, was das sein sollte.
    »Oh«, sagt sie. Und dann sitzt sie da, unsicher, ob sie in einem Moment eingefroren ist oder die Zeit normal weiterläuft. »Wann?«, fragt Ellie. »Wann war es?«
    »Vor einem guten Jahr«, sagt Sean.
    Und Ellie nickt, als sei das die einzig mögliche Antwort.
    »Ich muss mit dem Detektiv reden«, sagt Ellie ruhig. »Kannst du ihn bitte zurückrufen?«
    Sean nickt. Ellie wartet, während er wählt. Nach einem Moment schüttelt Sean den Kopf. »Mailbox«, sagt er. »Er sagte, er habe gerade einen Auftrag, als ich gerade mit ihm
gesprochen habe. Wahrscheinlich kann er gerade nicht ans Telefon gehen.« Er sagt in den Hörer: »Hallo, Doug, hier ist noch mal Sean Lerner. Wir haben gerade miteinander gesprochen, aber wir müssen Sie noch ein paar Dinge fragen, also rufen Sie mich bitte zurück.« Er klappt das Telefon zu und schaut Ellie an. »Wir versuchen es später noch mal, falls er in ein paar Stunden noch nicht zurückgerufen hat.«
    Ellie nickt, als verstünde sie. Aber am unverständlichsten ist etwas anderes. Ein ganzes Jahr lang hat Ellie auf einem Planeten gelebt, den ihre Schwester nicht mehr bewohnt, und irgendwie hat Ellie das nicht gemerkt. Sie starrt auf die Menschen auf dem Parkplatz. Sie gehen irgendwohin, halten Dinge in der Hand, reden miteinander, essen. All diese Menschen haben es geschafft, die vielen Dinge zu überleben, die einen Menschen umbringen können. Immer wenn sie in Gefahr waren und hätten sterben können, taten sie es nicht.
    Nina schon.
    Ich schlüpfe wieder in meinen Körper, um diesen Gedanken mit mir selbst zu teilen. Die Welt ergibt überhaupt keinen Sinn. Die Leute erzählen dir zwar immer, dass sie Sinn ergibt oder man zumindest so tun muss, als ob. Aber ich weiß jetzt, was für ein Ort diese Welt ist, in der wir leben. Und der Atem stockt in meiner Kehle, und es zerreißt mir das Herz, nicht nur wegen mir, nicht nur wegen Nina, sondern wegen uns allen.

Kapitel 33

    Mir fällt bald wieder ein, wie man weint. Ich beuge mich nach vorne, lege die Arme aufs Armaturenbrett und den Kopf auf die Arme. Die Schluchzer drängen aus mir heraus, als seien alle Öffnungen meines Gesichts an einen unerschöpflichen Tränenspeicher angeschlossen. Die Bilder schießen durch meinen Kopf wie eine Diashow, bei der mein Weinen den Soundtrack bildet.
    Nina, die an meinem neunten Geburtstag hundert Luftballons aufbläst und in mein Zimmer stopft. Nina, die einen Comic über meine Socken zeichnet und ihn in der Sockenschublade liegen lässt, als hätten die Socken ihn selbst gezeichnet. Nina, die uns am Tag nach der

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