Mottentanz
streckt die Hände aus und legt seine Arme um mich. Seine Haut ist warm, doch ihn zu umarmen, lässt mich frösteln. Über seine Schulter sehe ich die Bettdecken oben auf dem Schrank. Ich erinnere mich an meinen Traum letzte Nacht, der vielleicht überhaupt kein Traum war…
»Könntest du uns was zu essen besorgen?«, frage ich. »Ich meine, während ich dusche?«
Sean lächelt erneut. »Du bist hungrig?«
»Ich bin kurz vorm Verhungern.«
»Was willst du haben? Nenne mir irgendwas und ich werde es für dich besorgen.«
»Einen Salat«, sage ich. »Einen richtig riesengroßen Salat, mit ganz viel Zeug drin.«
»Zum Frühstück?«
Ich nicke.
»Okay, was immer du willst«, sagt er schnell. »Ich zieh los. Wenn du aus der Dusche rauskommst, steht der Salat für dich bereit.« Er klingt so zufrieden, zufrieden, dass es etwas gibt, was er für mich tun kann.
Ich nicke und zwinge mich, wieder zu lächeln. Ich schaffe es, meine Knie vor dem Umknicken zu bewahren, bis die Badezimmertür sicher hinter mir verschlossen ist. Ich drehe das Wasser auf und warte, meine Ohren gegen die Tür gepresst, bis ich höre, wie die Außentür zuknallt. Und erst da erlaube ich es mir zu schreien.
Kapitel 37
Keine Zeit nachzudenken. Ich schleppe den schweren Schreibtischstuhl zum Schrank, klettere darauf und stecke die Hand zwischen die kratzigen beigefarbenen Decken im oberen Regal. Nach ein paar Zentimetern treffen meine Hände auf Leder. Ich habe also nicht geträumt . Ich taste mich weiter vor, bis ich den Griff zu fassen kriege. Ich packe ihn und ziehe Seans lederne Kuriertasche heraus. Sie fühlt sich warm und lebendig an, als hätte der Inhalt seinen eigenen Puls.
Ich springe vom Stuhl und kauere mich auf den Boden.
Die Tasche ist mit einen fünffachen Kombinationsschloss verriegelt, das allerdings Buchstaben statt Zahlen verwendet. Ich zerre an dem Schloss. Ich kann auf keinen Fall die Tasche aufbrechen und durch das Leder kann ich auch nicht schneiden.
Ich muss also versuchen, die richtige Kombination zu erraten.
Ich drehe die winzigen Einstellscheiben, so schnell ich kann.
N-I-N-A-W
Nein.
J-A-S-O-N
Nein.
S-A-U-E-R
Nein.
A-B-C-D-E
Nein.
Ich muss in diese Tasche rein.
S-E-A-N-L
Mist.
N-O-S-A-J
Scheiße.
W-A-N-I-N
Mist! Und was jetzt?
Ich atme tief ein und mir kommt eine Idee. Der Spiegel in der Damentoilette in Nebraska, Ninas Zeichnung. Cakey s J.
CAKEY.
Ich drehe die kleinen Scheiben einzeln. Meine Handflächen schwitzen, mein Herz hämmert.
C-A-K-E-Y
Ich halte den Atem an und ziehe am Schloss.
Es springt auf.
Ich atme aus. Atme ein. Atme wieder aus. Wenn ich gesehen habe, was hier drin ist, gibt es kein Zurück mehr.
Ich klappe die Tasche auf und schütte den Inhalt auf den Boden. Der Zeitungsartikel über Jason, ein paar Umschläge, eine Zeichnung und ein Foto. Ich greife danach. Es zeigt Nina und jemand anderen… ich halte mir das Bild dicht vors Gesicht, um mehr zu erkennen. Oh Scheiße. Es ist Seans Bruder Jason.
Auf dem Bild sitzen Nina und Jason an einem riesigen hölzernen Esstisch, halten sich eng umschlungen und lächeln strahlend. Der Tisch vor ihnen ist von den Überresten einer Party bedeckt. Geschenkpapier, ein großer Haufen pinkfarbener Kekse, Bierflaschen. Auf dem Tisch liegt auch ein Snowboard, das mit Tuschezeichnungen bedeckt ist. Sie sitzen vor einer silbernen Wand, auf die ein schwarzes Raumschiff gemalt ist.
Ich habe diese Wand im Mothership gesehen. Ich drehe das Bild um. In Ninas Handschrift steht da: Ich liebe dich J.
J wie Jason.
Oh Gott.
Ich wende mich der Zeichnung zu.
Trotz allem muss ich einen Augenblick lang lächeln. Das ist so typisch Nina. Aber jetzt bin ich baff. Nina hat das für Sean gezeichnet? Nein, Moment… hat sie nicht.
Er hat es geändert. Sean hat eine Zeichnung, die für Jason bestimmt war, genommen und den Namen geändert, damit er sich einbilden konnte, sie sei für ihn bestimmt gewesen. Mein Magen krampft sich zusammen, und ich habe Angst, ich muss gleich kotzen.
Ich lasse das Blatt fallen und schaue auf die Briefe. Es sind Dutzende.
Ich nehme den obersten. Meine Hände zittern. Er ist auf den 24. Juni datiert, den Abend, an dem Nina verschwand.
Liebste Nina,
ich verstehe, wie schwer dies alles für dich sein muss, aber ich hoffe, dass du weißt, das ich alles, was ich an Jasons Beerdigung gesagt habe, wirklich ernst meine. Ich bin für dich da, du kannst dich auf mich stützen, mit mir reden. Was immer du brauchst. Ich bin aus
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