Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Weingarten
Vom Netzwerk:
verdreht mir die Arme hinter dem Rücken. Ich versuche, mich ihm zu entwinden, und schaffe es nicht.
    »Was machst du da?«, frage ich.
    Etwas wird um meine Handgelenke gewickelt und an der Stuhllehne festgezurrt. Wahrscheinlich sein Gürtel. »Bleib hier sitzen«, sagt er, als hätte ich eine Wahl. Und dann rennt er aus der Tür und läuft über den Parkplatz. Ich zerre so kräftig ich kann am Gürtel. »Hilfe«, rufe ich. »HILFE!« Aber niemand kommt.
    Seans Telefon vibriert wieder auf dem Schreibtisch. Ich beuge mich in die Richtung und stoße es mit dem Kinn auf den Boden, wo es weitervibriert. Ich strecke mein Bein aus und schiebe das Handy mit dem Fuß zu mir her, klappe es mit den Zehen auf. »Hilfe«, schreie ich in die Richtung des Lautsprechers. Ich schaue nach unten, hoffe, dass es wieder die unterdrückte Nummer ist, aber auf dem Display blinkt eine Nummer, die ich nicht kenne. »Hallo?«, höre ich eine leise Stimme am anderen Ende sagen. »Hallo?« Mein Herz explodiert in meiner Brust. Ist das … Kann das wirklich …

    Sean kommt zurück. Ich trete das offene Telefon unter den Tisch, als er das Zimmer betritt.
    »Weißt du was, Ellie? Es gibt etwas, das ich noch nie jemandem erzählt habe.« Er schaut mich nicht einmal an, seine Tränen fließen jetzt schneller, es sind ungeheuer viele. Als hätte jemand in seinem Gesicht den Wasserhahn aufgedreht. Er hält einen Arm hinter dem Rücken versteckt. »Er ist nicht friedlich eingeschlafen.« Sean schüttelt den Kopf und wischt sich mit dem Handrücken die Nase ab. »So hatte ich es mir vorgestellt. Dass er einfach einschläft. Aber so war es nicht. Ich ging in sein Zimmer und habe ihn festgehalten. Er schlief immer sehr tief, deshalb hat er gar nicht gespürt, wie die Nadel in seinen Arm drang. Aber in letzter Sekunde öffnete er die Augen und sah mich an. Er sah mich voller Entsetzen an, Ellie. Sein letzter Augenblick auf dieser Welt, und er musste seinem Bruder in die Augen sehen und begreifen, was ich getan hatte.« Sean holt tief Luft und bringt seinen Arm nach vorne. Er trägt etwas in der Hand. Schwarzer Lauf, der unter dem Neonlicht im Zimmer stumpf aufleuchtet. Übertrieben bedrohlich. Eine Waffe. Sean schaut sie an, dann wieder mich, dann wieder die Pistole. »Ich habe sie für mich besorgt«, sagt er. »Weil ich… du weißt schon.« Er hebt die Pistole an die Schläfe, zuckt mit dem Kopf zur Seite und streckt dann die Zunge heraus. »Angeblich ist es schwierig, an eine Waffe zu kommen, aber wenn man viel Geld hat, kann man die meisten Dinge problemlos kaufen.«
    Und er schaut auf und grinst, als erwarte er, dass ich lache. »Zuerst konnte ich die Schuldgefühle kaum ertragen. Nina war fort und ich schaffte es alleine einfach nicht. Dann kam
ich ein paar Monate später über Thanksgiving aus dem Internat nach Hause. Normalerweise verbrachten wir Thanksgiving immer in unserem Haus in Big Sur. Hey, das ist witzig, das ist übrigens das Haus, in dem diese Band deine Schwester abgesetzt hat. Aber in diesem Jahr gingen wir nicht hin, denn es war der Lieblingsort meines Bruders und mein Dad und meine Stiefmutter dachten, es wäre zu schwierig, ohne ihn dort zu wohnen. Also saßen wir zu dritt bei uns zu Hause an diesem riesigen Tisch, starrten auf unsere Teller und rührten das Essen nicht an, das die Köchin für uns gekocht hatte. Und ich … ich vermisste ihn plötzlich, was wirklich verrückt war. Ich dachte auf einmal daran, wie anders das Essen gewesen wäre, wenn er auch mit am Tisch gesessen hätte. Wie cool und wie witzig er gewesen war. In diesem Augenblick empfand ich zum ersten Mal, dass er wirklich mein Bruder gewesen war, und mir wurde schlecht, also entschuldigte ich mich, was allen egal war. Ich ging in mein Zimmer und nahm die Pistole aus ihrer Schachtel in meinem Schrank. Ich wusste nicht einmal, wie man sie richtig lädt. Ich hatte mir eine Anleitung im Internet durchgelesen, aber ich hatte bisher ja nicht die Chance gehabt, sie auszuprobieren. Also machte ich alles so, wie es die Website vorgab, hielt die Pistole an meine Schläfe und wollte gerade abdrücken, als ich auf einmal in meinem Kopf eine Stimme hörte, die mit mir sprach. Ich weiß nicht, ob es Gott oder der Geist meines Bruders war, aber die Stimme befahl mir, es nicht zu tun, mich nicht umzubringen, denn das würde die Dinge nicht wieder in Ordnung bringen. Ich trug keine Schuld, weißt du? Ich habe ihn nicht getötet, es waren zwar meine Hände, aber
sie taten nur

Weitere Kostenlose Bücher