Mount Dragon - Labor des Todes
heute. Der junge Mann drehte sich um die eigene Achse und betrachtete sein Spiegelbild aus verschiedensten Blickwinkeln. Dann kam er an die Ladentheke, und Muriel wußte, daß das Jackett schon so gut wie verkauft war.
»Fünf Dollar«, sagte sie mit einem fröhlichen Lächeln und entfernte das Preisschild.
Das Gesicht des jungen Mannes nahm hinter der Sonnenbrille einen traurigen Ausdruck an. »Oh«, sagte er. »Ich habe gehofft...«
Muriel zögerte nur einen Augenblick. Fünf Dollar bedeuteten für ihn vermutlich den Gegenwert mehrerer Mahlzeiten, und er war doch so dünn. Sie beugte sich vor und sagte in verschwörerischern Ton: »Wissen Sie was? Ich gebe es Ihnen für drei, aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie es niemandem sagen.« Sie befingerte einen der Ärmel des Jacketts. »Das ist echte Wolle, eine prima Qualität.«
Der junge Mann freute sich sichtlich und strich sich schüchtern die Stirn locke nach hinten. »Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte er und fischte aus seiner Hosentasche drei zerknitterte Dollar' scheine.
»Ein wirklich hübsches Jackett«, sagte Muriel. »Als ich noch jung war, da hätte mir ein Mann in einem solchen Jackett...nun, das ist lange vorbei.« Sie zwinkerte dem jungen Mann zu, aber er sah sie so verständnislos an, daß sie sich fürchterlich albern vorkam. Energisch schrieb sie eine Quittung aus und gab sie ihm. »Ich hoffe, Sie haben viel Freude daran.«
»Das werde ich bestimmt.«
Sie beugte sich wieder zu dem jungen Mann. »Übrigens, wir haben gleich gegenüber eine Suppenküche, wo Sie umsonst eine gute, warme Mahlzeit bekommen. Und zwar ohne jegliche Verpflichtung.«
Der junge Mann sah sie mißtrauisch an. »Kein religiöses Geseire?«
»Nichts dergleichen. Wir drängen unsere Überzeugungen niemandem auf. Da drüben erwartet Sie nichts als ein warmes, nahrhaftes Essen. Unsere einzige Bedingung ist, daß Sie nüchtern und drogenfrei sind.«
»Wirklich?« fragte der junge Mann. »Ich dachte immer, die Heilsarmee sei eine religiöse Organisation.«
»Das sind wir auch. Aber mit hungrigem Magen läßt es sich schlecht ans Seelenheil denken. Da hat man nur die nächste Mahlzeit vor Augen. Erst wenn der Körper satt ist, wird die Seele frei.«
Der Mann dankte und ging. Muriel spähte aus dem Fenster und war froh, daß er direkt hinüber zur Suppenküche ging, sich dort an der Tür ein Tablett nahm und in die Schlange stellte. Kurz darauf hatte er schon ein Gespräch mit dem Mann vor ihm angefangen.
Muriel spürte, wie ihr die Augen feucht wurden. Der abwesende, leicht verlorene Gesichtsausdruck des jungen Mannes hatte sie so sehr an ihren Sohn erinnert.
Sie hoffte inständig, daß sich sein Leben bald zum Besseren wenden würde.
Am nächsten Morgen erhielten Laden und Suppenküche in der Pearl Street eine anonyme Spende von einer Viertelmillion Dollar, und niemand bei der Heilsarmee wunderte sich mehr darüber als Muriel Page, daß der unbekannte Wohltäter angegeben hatte, die Spende solle eine Anerkennung für ihre Arbeit sein.
Carson und de Vaca gingen schweigend den Berg hinunter zum Labor. Kurz vor dem überdachten Weg zum Wohnbereich blieben sie stehen.
»Und?« fragte de Vaca schließlich. »Was und?«
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, ob Sie mir helfen wollen, das Tagebuch zu finden«, sagte sie in scharfem Flüsterton.
»Susana, ich habe viel zu tun. Und Sie auch, aber das nur nebenbei. Dieses Tagebuch, falls es überhaupt existiert, läuft uns nicht weg. Lassen Sie mich noch einmal darüber nachdenken, okay?«
De Vaca sah ihn eine Weile an. Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und ging ins Haus.
Carson sah ihr ein paar Sekunden lang hinterher, dann stieg er mit einem leisen Seufzer die Treppe in den ersten Stock hoch und betrat den dunklen, kühlen Korridor. Vielleicht hatte Teece recht gehabt mit seiner Vermutung, daß Burt ein geheimes Tagebuch angelegt hatte. Und vielleicht hatte auch de Vaca recht in Hinblick auf Nye. Wenn er den Inspektor wirklich umgebracht hatte, dann konnte Teece ihnen nicht mehr helfen. Immer wieder dachte Carson an den schrecklichen Augenblick auf dem Gipfel des Mount Dragon, in dem er mit einemmal gespürt hatte, daß seine feste Überzeugung ins Wanken geriet. Seit der Versteigerung der Ranch und dem Tod seines Vaters war Carsons Liebe zur Wissenschaft -sein Glaube an das Gute, das sie bewirken konnte - sein ein und alles gewesen. Wenn nun aber...
Er wollte nicht mehr darüber nachdenken.
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