Mount Maroon
Und nachdem sie die Stadtwettkämpfe gewonnen hatte, standen ihre Chancen nicht schlecht. Peter blieb allein zuhause. Er räumte den Tisch ab, spülte von Hand. Er tat dies weniger aus einem besonderen Umweltbewusstsein heraus, als vielmehr um sich noch einige Zeit vor dem Anruf in Minnesota zu drücken. Der Zeitunterschied betrug eine Stunde. Vermutlich war also um diese Zeit ohnehin niemand zu sprechen, außer einem mürrischen Wachdienst, der auf den Feierabend wartete und einem ebenso mürrischen Hausmeister, der dasselbe tat, sich allerdings noch zehn Stunden gedulden musste. Peter blätterte in der Washington Post, konnte sich aber auf keinen Artikel konzentrieren, er rasierte sich, kochte noch einen Tee, setzte sich auf den Balkon und blickte in den Garten hinunter. Er sah, wie ein Eichhörnchen einen nussähnlichen Gegenstand versteckte, wieder hervorholte, woanders hinbrachte, vergrub, wieder ausgrub und mitnahm.
- „Du bist nervös, mein Freund“, sagte Peter leise und hätte nicht sagen können, ob er damit den Nager meinte oder sich selbst.
Nach dreimaligem Läuten meldete sich eine freundliche Männerstimme. Peter war etwas irritiert. Irgendwie hatte er eine Frau erwartet, aber die Emanzipation lief offenbar in beide Richtungen der Karriereleiter. Peter wusste, dass er einen triftigen Grund brauchte, um jemanden zu veranlassen, tief in die Archive herunterzusteigen und nach einem Studenten zu suchen, der Anfang der siebziger Jahre dort eingeschrieben war und das vielleicht nur für wenige Semester … oder auch gar nicht.
- „Guten Tag, hier ist Dr. Flowers vom Institute of Psychiatry in Boston. Ich möchte Sie bitten, mir bei einem schweren Fall zu helfen. Sie müssen mir aber versprechen, die Sache vertraulich zu behandeln.“
Der Mann am anderen Ende der Leitung bejahte, wobei seine Stimme nun eher die eines Jugendlichen war.
- „Hören Sie, ich habe hier einen Patienten, der sein Gedächtnis verloren hat. Er kann sich kaum an seinen Namen erinnern. Wir versuchen die Puzzleteile seiner Identität wieder zusammenzusetzen. Nur so können wir ihm helfen, sich wieder zu erinnern.“
In der Leitung war es ganz still geworden, sodass sich Peter fragte, ob der Mann überhaupt noch da war. Dennoch sprach er weiter.
- „Der Mann erzählte uns, er glaube Anfang der siebziger Jahre an der Universität von Minnesota Physik studiert zu haben. Wir sind uns aber nicht sicher, ob das stimmt. Wissen Sie, der arme Mann ist sehr verwirrt.“
- „Wie ist sein Name?“
- „Der Mann kennt nur seinen Nachnamen, Dick, wenn der denn überhaupt stimmt.“
Peter hörte Finger über eine Computertastatur gleiten.
- „Arthur Dick?“
Mein Gott, natürlich! Peters Gedächtnis förderte das Bild der Visitenkarte zu Tage.
- „Könnte sein“, sagte Peter so lakonisch wie möglich, obwohl er innerlich Luftsprünge machte.
- „Einen Augenblick bitte.“
Es wurde getuschelt. Offenbar hatte das Aussprechen des Namens das Interesse einer anderen Person an dem Telefonat geweckt. Sekunden später vernahm Peter eine resolute Frauenstimme.
- „Dr. Flowers, ich versichere Ihnen hiermit, das Arthur Dick nicht der Mann ist nach dem Sie suchen. Er leidet weder an Gedächtnisschwund noch an sonst irgendeiner geistigen Einschränkung. Professor Dick war erst vor wenigen Tagen hier und hat einen Vortrag gehalten.“
- „Professor Dick?“
- „Ja, er ist Professor für Physik an der Brown University. Eigentlich sollten Sie ihn kennen. Er ist einer der besten Wissenschaftler des Landes. Und er hat hier studiert, hier in Minnesota.“
Der Rest war Pathos. Während die Frau in Peters Vorstellung mit stolzgeschwellter Brust vor ihm stand, bald auf dem Stuhl, bald auf dem Tisch, wurde sie selbst immer kleiner, trat hinter die Leistungen eines anderen zurück, von denen sie berichtete. Als Peter sie weder mehr hören noch sehen konnte, hängte er ein.
Peter war mit dem Zug in die Hauptstadt von Rhode Island gefahren. Gegen vier Uhr am Nachmittag hatte er das Hochschulgelände erreicht. Die Brown University in Providence zählte zu den ältesten und renommiertesten Universitäten der Vereinigten Staaten. Nach Harvard, Yale, Columbia und Princeton stand sie auf Platz fünf der acht Ivy-League-Universitäten. Der Campus lag zentral in der Stadtmitte und trug die sichtbaren Merkmale seiner Altehrwürdigkeit mit großem Stolz. Nach außen spiegelte sich diese Haltung in Architektur und Raumordnung, wenngleich man sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher