Mount Maroon
eurer Wanderung in irgendeinem Reiseführer eine Randnotiz dazu gesehen.“
- „Hm …“, Peter war schläfrig.
- „Ich meine, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Oder du hast irgendwann etwas darüber gelesen und dann wieder vergessen. Du weißt selbst, dass Menschen nur einen Bruchteil von dem behalten, was sie täglich aufnehmen. Und schließlich gab es in den vierziger Jahren ja eine Forschungseinrichtung am Mount Maroon, aber sie ist abgebrannt …“
Ellen seufzte leicht, dann nahm sie den Faden wieder auf:
- „Wahrscheinlich ist es so auch mit diesem Bild und diesem Mythos und … Mr. Dick. Er existiert vielleicht auch nicht mehr oder nicht mehr als der, der er früher einmal war.“
Peter schreckte hoch. Da war etwas.
- „Moment mal, was hast du gerade gesagt?“
Ellen erschrak. Peter wiederholte die letzten Worte.
- „…er existiert nicht mehr als der, der er einmal war?“
- „Ja, ich meine, du hast vielleicht mal eine Krawatte gehabt, auf deren Etikett der Name Dick stand oder so was. Und dann hat dieser Dick Pleite gemacht und taucht in diesem Zusammenhang nicht mehr auf.“
Peter hörte ihr nicht mehr richtig zu. Andere Überlegungen hatten sich ihren Weg an die Oberfläche gebahnt. Es rotierte in seinem Kopf wie in einem CD-ROM-Laufwerk. Daten wurden gesucht, Lebensdaten von Mr. Dick.
- „Mr. Dick hat gesagt, er habe studiert. Jetzt fällt es mir wieder ein. Aber wo bloß? In …“
Peter setzte sich auf die Bettkante. Er stützte seinen Kopf auf die Hände. Er sah Mr. Dick wieder vor sich, wie er unter diesem famosen Sternenhimmel stand und seinerseits in eine abgelaufene, bessere Zeit zurückblickte.
- „…in Minneapolis! An der U of M hat er gesagt, der University of Minnesota.“
- „Na, das ist ja gleich um die Ecke.“
- „Es gibt Telefone.“
Peter hatte schlecht geschlafen. Jede Stunde wachte er auf, lag für einige Minute wach, schlief erneut ein, wälzte sich von einer Seite auf die andere, um wenig später wieder die Beleuchtung des Funkweckers zu betätigen. Gegen halb sechs war er schließlich aufgestanden, streifte seinen Jogginganzug über und zog die Laufschuhe an. In gemächlichem Tempo lief er durch das noch stille Mayfield. Er mochte die Umgebung. Das hier war genau das, was Ellen und er suchten, die richtige Mischung aus quirligem Stadtleben und einem fast ländlich anmutenden Nachbarschaftsidyll. Eine ansprechende Architektur, gepaart mit optimaler Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs, einschließlich kultureller Angebote. Während er dahinjoggte, hing Peter seinen Gedanken nach. Viele ihrer Freunde lebten in diesem Viertel. Aber sie alle waren nicht so wichtig wie Luther, den sie letzte Woche beigesetzt hatten. Peter lief die Willow Road hinunter. Er war sie zuletzt an dem Tag entlang gegangen, als er mit Mr. Dick durch die Nacht gefahren war, allerdings in der umgekehrten Richtung und natürlich nur in seinem Traum. In seinem Traum war Mayfield ein ödes, heruntergekommenes ehemaliges Industriegebiet, menschenleer und verfallen. Vielleicht, so sagte Marty, habe er aber auch die Zukunft gesehen, eine mögliche Zukunft, die nur in seiner Phantasie existierte und vor der er Angst hatte. Das Schild, das auf den Bau einer Siedlung hinwies, hatte dabei eine andere Bedeutung. Das war eine Art Umkehr, eine Abwehrreaktion. Gewissermaßen ein Sicherheitsnetz, das verhinderte, dass der Träumende zu tief fiel, ohne alles andere in Frage zu stellen. Peter näherte sich dem kleinen Wäldchen, durchquerte es im oberen Teil und gelangte vorbei an den Teichen der Forellenzucht ans Wasser.
Annapolis war vom Wasser umgeben, das sich von der Chesapeake Bay an vielen Stellen fjordartig in das Stadtgebiet hineinfraß. Während sich die frühmorgendliche Sonne im Mayfield schon fast vollständig durchgesetzt hatte, hielt sich über dem Wasser noch der Nebel. Es war ein faszinierendes Bild, wie die Masten der Fischerboote und Segelyachten daraus emporragten. Wie sich dieser Nebel langsam lichten und den Blick auf die weit verzweigten Halbinseln am anderen Ufer freigeben würde, so würde auch Peter langsam wieder an Klarheit gewinnen und die Suche nach Mr. Dick würde dabei ein Meilenstein sein. Davon war er überzeugt.
Gegen acht hatte die kleine Familie gefrühstückt, danach fuhren Ellen und Irene mit dem Fahrrad zum Schwimmbad. Irene trainierte in den Sommerferien regelmäßig mit zehn anderen Kindern ihrer Altersgruppe für die Jugendmeisterschaften von Maryland.
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