Mount Maroon
waren. Robert Shane hingegen kannte Trauer nur als Reaktion auf traurige Ereignisse, wie etwa den Tod von Albert Mason, aber er war stets bemüht, diese Dinge auf einer realistischen Ebene abzulegen, sie einzuordnen als zwangsläufige Geschehnisse im Gang der Welt. Forma Townsends Verschwinden hatte eine neue Kategorie geschaffen. Er vermisste ihn anfangs sehr, aber er wusste, dass mit seinem Freund etwas anderes geschehen war, etwas Unbegreifliches und das begründete eine Hoffnung, die im Laufe der Zeit fast zu einer strengen Gläubigkeit mutierte. Jetzt war diese Gläubigkeit zu einer Gewissheit geworden und verlangte ihren Tribut, den er ohne Zögern leisten würde.
Robert Shane hatte den Geschwindigkeitsregler des Rollstuhls bis zum Anschlag durchgedrückt. Um aerodynamischer zu sein, zog er den Kopf ein und lehnte sich weit nach vorne. Der Hund hechelte neben ihm her. In geradezu halsbrecherischem Tempo passierten sie die immer heller werdende Röhre. Shane konnte sich gar nicht daran erinnern, jemals so schnell gefahren zu sein, zumindest nicht mit einem Rollstuhl. Es kribbelte in seinem Bauch, ein Hochgefühl, wie er es als Kind auf dem Kettenkarussell des Jahrmarkts von Waynesville erlebte hatte. Er wunderte sich, gerade jetzt Erlebnisse aus seiner Kindheit zu erinnern. Möglicherweise schloss sich der Kreis. Alter und Kindheit lagen näher beieinander als man es ihnen zugestehen mochte. Robert Shane wurde heiß, sein Kopf glühte, obwohl die Temperatur von Minute zu Minute deutlich sank. Eigentlich müsste sich Bruce, so dachte Robert Shane, instinktiv dagegen wehren, tiefer in den Tunnel hineinzugelangen, aber tapfer hielt er mit dem rasanten Tempo des Rollstuhls Schritt, blickte sich nicht um, zeigte keine Anzeichen von Erschöpfung. Offenbar folgte ein Hund seinem Herrn auch in den Tod, dachte Shane. Auf seinem Gesicht erschien der erhabene Ausdruck tiefer Gelassenheit, gepaart mit einzigartiger Zufriedenheit. Der alte Cowboy ritt seinem ganz persönlichen Sonnenuntergang entgegen.
51. SHANES GESCHICHTE
Jetzt erkannte Mason, dass der Mann deutlich jünger war, weniger faltig, kein schlaffes Gewebe im oberen Wangenbereich und unterhalb des Kinns. Seine Haare waren bereits stark ergraut, aber die Entfernung der Rußschwärze hatte ihn dennoch in erstaunlichem Maße verjüngt. Er hatte sich als Robert Shane vorgestellt und Alan Mason hatte keine Veranlassung, daran zu zweifeln, er hatte ihn ja auch sofort erkannt. Tatsächlich war dieser Mann eine jüngere Ausgabe von Mr. Shane. Die Besonderheiten dessen eigenwilliger Mimik traten aber mehr als deutlich hervor, vor allem der durchdringende Blick und die Art, wie er den Mund verzog, wenn sich hinter seiner Stirn eine andere Meinung durchsetzte, als jene, die sein Gegenüber gerade vortrug. Auch die wachen, hellgrünen Augen waren anschauliche Kennzeichen. Er saß zwar nicht im Rollstuhl, aber auch den Leiter des Mount Maroon Laboratory hatte dieses Schicksal erst zu einem späteren Zeitpunkt ereilt. Für Mason war es eine seltsame Erfahrung, sich einem etwa 40-jährigen Mr. Shane gegenüber zu sehen, während er selbst jenseits der 70 war. Irgendwie war es, als hätten sie ihre angestammten Rollen getauscht.
Die beiden Männer saßen in einem Café in Eddyville, keine 20 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt, und brannten darauf, sich die Puzzleteile ihres Wissens wechselseitig ergänzen zu lassen. Bislang hatte Shane nur eine mysteriöse Botschaft erwähnt, die ihn veranlasste, heute hier zu sein und das zu tun, was offensichtlich getan werden musste. Und er hatte es getan, mit Bravour. Blitzschnell hatte er die Situation erfasst, war die gut 50 Meter durch das üppige Buschwerk zu dem Auto geeilt. Mutig und tapfer stellte er sich den Flammen entgegen, sah den Jungen im hinteren Bereich den Fonds, trat heran und zerschlug die Seitenscheibe. Dann zog er ihn auf dem Bauch liegend heraus, brachte ihn von dem Fahrzeug weg, was gleich danach fast vollständig ausbrannte. Für die Erwachsenen, offenbar die Eltern des Jungen, kam jede Rettung zu spät. Zu seiner Überraschung hörte er kurz darauf die Sirene eines Rettungswagens. Auch die Feuerwehr rückte an. Er übergab das immer noch bewusstlose Kind einem Sanitäter und hielt Ausschau nach Mr. Mason. Die Rettungsaktion hatte Shane Alan Mason bereits am Unfallort geschildert. Jetzt aber wollte er die Geschichte von Anfang an erzählen.
- „Es war am 16. August 1947, der Tag, nachdem das
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