Mr. Fire und ich, Band 4 (German Edition)
kullern mir die Tränen übers Gesicht. Als ich die Metro verlassen habe, komme ich für einen Moment ins Schwanken: Wo muss ich hin? Wo ist Sarahs Wohnung? In dieser Straße oder in der nächsten? Ich verharre zu lange auf der Stelle: Man schubst mich weiter. Ein bisschen weiter vorn gelingt es mir, die Orientierung wiederzufinden. Der Eingangscode des Gebäudes, in dem Sarah wohnt, kommt mir mühelos wieder in den Sinn. Zum Glück hat er sich nicht geändert!
Ich steige nach oben und finde den Schlüssel hinter dem Klingelblock. Sarah bewahrt ihn dort immer für den Notfall auf. Ich öffne die Tür und befinde mich sofort in ihrem kleinen Reich, einer winzigen, sehr spärlich möblierten Einzimmerwohnung: eine Matratze mit Decke auf dem Boden als Bett, ein Klapptisch und ein kleiner Schrank. Dusche und Toiletten sind im Gang. Alles ist aufgeräumt, aber der freie Platz ist sehr vollgestellt: überall liegen Bücher herum. An den Wänden hängen lauter Fotos von Sizilien, wo, wie Sarah gerne sagt, ihr Herz das ganze Jahr lang wohnt. Sie ist wirklich eine Vagabundin: ständig auf der Reise. Sie bleibt nie sehr lange an einem Ort.
Auf der Matratze sitzend trockne ich meine Tränen. Nach diesem katastrophalen Abend müsste ich eigentlich erleichtert sein, einen vertrauten Ort wiedergefunden zu haben. Aber das ist nicht der Fall: Ich fühle mich verloren. Gestern war ich noch glücklich über meine Ankunft in Paris und hatte nur Daniel und unser anstehendes Wiedersehen im Sinn. Den ganzen Tag lang bestand unsere Zukunft nur aus diesem Abend. In diesem Zimmer, in dem mir nichts gehört, fühle ich mich einsam und verlassen. Nicht einmal bei meiner Ankunft in New York hatte ich ein derartiges Gefühl der Einsamkeit verspürt: Alles war neu und ich hatte es so gewollt. Heute Abend habe ich wieder einmal den Eindruck, dass Daniel den Weg bestimmt, dem ich folgen muss. Sogar bis zu unserer Trennung lag also alles in seiner Hand.
Ich sammle meine letzten Kräfte zusammen, um nicht wieder zu weinen. Ich darf mich nicht unterkriegen lassen! Morgen suche ich mir ein neues Zuhause. Ich werde mir mein eigenes Reich schaffen, mein Refugium. Dieser Gedanke gibt mir wieder neue Kraft. Ich bin zwanzig und werde in Paris leben! Ich bin zwanzig und mein ganzes Leben liegt vor mir. Ich bin zwanzig und Daniel fehlt mir.
Ich lege mich hin, ohne mich auszuziehen. Ich bin erschöpft. Unten in meiner Tasche vibriert mein Telefon. Daniel? Nein. Eine SMS von Vincent.
[Hallo Julia!]
Der barmherzige Samariter aus dem Flugzeug. Der junge Mann, der sich die Zeit genommen hat, mich im Krankenhaus zu besuchen. Aber auch der Mann, der Fantasien über mich hegt: Als er seine Jacke vergessen hatte, bin ich auf unmissverständliche Notizen über mich gestoßen. Aber was hat das am heutigen Abend schon für eine Bedeutung?
[Hello !]
[Wie geht's dir?]
[Gut. Und dir?]
[Ich hab mich gefragt, ob du morgen Abend Zeit hast?]
Nun ja, er macht keine Umschweife. Dabei hat er Daniel im Krankenhaus kennengelernt ... Aber ich bin nicht mehr mit Daniel zusammen ...
Bevor der Kloß in meinem Hals wieder die Überhand gewinnt, antworte ich.
[Ja, warum?]
[Ich bin am Abend bei Freunden eingeladen. Willst du mitkommen?]
Meine Finger zittern ein bisschen, als ich die Antwort tippe:
[Sehr gerne.]
3. Ohne ihn
Als ich am nächsten Morgen aufwache, brauche ich ein paar Sekunden, um mich zu erinnern, wo ich bin. Dann fällt mir mit einem Schlag alles wieder ein: die Frau auf dem Foto, das Restaurant, Daniels Wut, unsere Trennung und Sarahs Wohnung. Ich fühle eine schreckliche Leere, ein gähnendes Loch in meinem Inneren. Trotz der Nacht bin ich vor Müdigkeit und Kummer wie gerädert. Ich habe zusammengerollt auf der blanken Matratze geschlafen, eingewickelt in die Decke. Noch immer trage ich die Kleidung vom Vortag.
Ich muss Sarah anrufen.
Mühsam erhebe ich mich und nehme meine Tasche und mein Telefon. Ich habe drei neue Nachrichten. Keine von Daniel. Vincent schlägt vor, dass wir uns um 18 Uhr treffen, damit ich ihn zu dem Abend begleiten kann. Unseren Treffpunkt werde er mir später noch mitteilen. Er ist zufrieden, dass ich bereit bin mitzukommen, und freut sich darauf, mich wiederzusehen. Ich hatte diese Einladung vergessen.
Habe ich wirklich Lust, da hinzugehen? Was ist in mich gefahren, dass ich Ja gesagt habe?
Ich bin im Begriff, ihm eine freundliche Absage zu erteilen, als mein Handy klingelt. Es ist Sarah:
„Hallo, meine Liebe! Was gibt es
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