Mr Monster
Häuser weiter, aber gekannt habe ich ihn eigentlich nicht. Wir haben ihn nur bei den Festen gesehen oder wenn wir Süßes oder Saures gespielt haben, aber ich glaube, ich hätte … ich weiß auch nicht. Vielleicht hätte ich öfter mit ihm reden sollen. Verstehst du? Ihn fragen, woher er kommt und was er als Kind gemacht hat und so weiter.«
»Ich wüsste auch gern, woher er kam«, stimmte ich zu. Und ob es noch mehr von seiner Art gibt.
»Ich rede gern mit Menschen und höre mir ihre Geschichten an«, fuhr Brooke fort. »Jeder hat eine Geschichte zu erzählen, und wenn du dich mit jemandem hinsetzt und ihm gut zuhörst, erfährst du eine Menge.«
»Ja, aber irgendwie ist das auch komisch.« Allmählich fand ich meinen Rhythmus, und die Worte kamen mir leichter über die Lippen.
»Komisch?«
»Na ja … es ist doch seltsam, die Leute zu sehen und sich vorzustellen, dass sie eine Vergangenheit haben.« Wie konnte ich ihr erklären, was ich meinte? »Es ist klar, dass jeder von irgendwo herkommt, aber …« Ich deutete auf einen Mann, an dem wir gerade vorbeifuhren. »Nimm mal den da drüben. Er ist einfach irgendein Typ, den wir ein einziges Mal sehen, und dann ist er fort.«
»Oh, das war Jake Symons«, sagte Brooke. »Ein Kollege meines Vaters in der Sägemühle.«
»Genau das meine ich. Für uns ist er … wie eine Kulisse im Hintergrund unseres Lebens, aber für sich selbst ist er die Hauptperson. Er führt sein Leben, hat einen Job und so weiter. Er ist ein realer Mensch, und für ihn sind wir der Hintergrund. Der da vorn« – ich deutete auf einen anderen Mann – »blickt nicht einmal herüber. Vielleicht bemerkt er uns überhaupt nicht. Wir sind der Mittelpunkt unseres Universums, aber in seinem existieren wir nicht einmal.«
»Das ist Bryce Parker«, erklärte Brooke. »Er arbeitet in der Bibliothek.«
»Kennst du eigentlich jeden in Clayton, oder habe ich nur schlechte Beispiele gewählt?«
Brooke lachte. »Ich gehe einmal in der Woche in die Bücherei, deshalb kenne ich ihn natürlich.«
»Und was ist mit dem da?« Ich deutete auf einen Mann, der ein Stück vor uns den Rasen mähte.
»Nein, den kenne ich nicht.« Dann sah sie näher hin. Wir fuhren vorbei, und im letzten Moment wandte er sich um. Jetzt sahen wir sein Gesicht deutlich. Brooke platzte vor Lachen heraus. »Also gut, ich kenne ihn doch – er arbeitet im Graumman-Baumarkt und heißt … äh … Lance!«
»Lance und weiter?«
»Lance Graumman, nehme ich an. Es ist ein Familienunternehmen«, erklärte Brooke.
»Du weißt aber eine Menge mehr über einen Baumarkt, als ich angenommen hätte«, sagte ich.
Wieder lachte Brooke. »Wir haben im letzten Sommer unser Bad im ersten Stock renoviert. Ich glaube, kein einziges Teil, das wir gekauft haben, hat beim ersten Versuch richtig gepasst. Ich war oft in dem Laden.«
»Das erklärt es natürlich.« Es war eigenartig, mit ihr so locker über Nichtigkeiten zu reden. Ich hatte gefährliche Phantasien über sie gehabt und mir zugleich verboten, mehr als ein paar flüchtige Worte mit ihr zu wechseln, und jetzt kam mir dieser kleine Small Talk unerhört intim vor. Intim und oberflächlich zugleich. Wie konnte ein sinnloses Geplauder eine derart tiefe Bedeutung haben?
Ich bog ab, und wir fuhren auf der Straße zum See aus der Stadt hinaus. Vor uns waren zwei andere Autos mit Schülern von der Highschool unterwegs. Ich betrachtete ihre Hinterköpfe und hoffte auf eine Gelegenheit, Brooke zu zeigen, dass ich auch einige Leute kannte, aber obwohl ich die Schüler mit Sicherheit schon einmal gesehen hatte, fielen mir die Namen nicht ein. Sie waren älter als wir, deshalb hatte ich nicht viel mit ihnen zu tun gehabt.
»He, da ist Jessie Beesley! Aber der Typ neben ihr ist nicht ihr Freund. Ich frage mich, was da wohl passiert ist«, sagte Brooke.
Die Sonne stand noch hoch, und ich stellte das Sonnendings ein, um nicht geblendet zu werden. »Du kennst jeden in der Stadt, und ich weiß nicht mal, wie dieses Teil hier heißt.«
»Das ist ein …« Brooke schnitt eine Grimasse. »Ein Teil, das die Sonne verdeckt. Wie nennt man so was? Ein Verdeck? Eine Sonnenklappe? Eine kleine Markise.«
»Ein flacher Schirm.«
»Du könntest Spitzen drannähen und es Parasol nennen«, schlug sie vor. »Dann wäre es wertvoll .«
Ein rascher Blick verriet mir, dass sie lächelte. Für einen Soziopathen bin ich recht gut darin, Gesichtsausdrücke zu deuten, aber Sarkasmus ist manchmal schwer zu
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