Mr Nanny
Garderobenschrank. »Dieser Schrank ist größer als mein Schlafzimmer.« Er spähte um die Ecke zum Wohnzimmer.
»Mir kommt er auch noch ziemlich groß vor. Wir sind erst vor ein paar Monaten eingezogen. Aber Sie werden sehen, bei uns geht es ziemlich locker zu.«
Ich hatte ihm gesagt, er könne sich anziehen wie immer, und so war er in einer zweifarbigen Patagonia-Snowboard-Hose mit zahlreichen Taschen und Reißverschlüssen an den Seiten erschienen. Dazu trug er ein abgetragenes Flanellhemd über einem T-Shirt mit einem Burton-Logo auf der Brust. An den Füßen hatte er hellbraune Wildleder-Pumas.
Er nahm seine Baseballkappe ab, und ich schnappte erschrocken nach Luft.
»Ach, das.« Er deutete auf eine mandarinengroße Beule auf seiner Stirn. »Deshalb hab ich die Kappe aufgesetzt. Bin letzte Woche vom Skateboard gefallen. Blöd, ich weiß. Sieht unschön aus.«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Dylan findet das sicher cool.«
Peter war beeindruckender, als ich ihn in Erinnerung hatte. Erst zwei Minuten waren vergangen, und schon fand ich es seltsam, am helllichten Tag einen erwachsenen Mann, der den Stimmbruch längst hinter sich hatte, in der Wohnung zu haben. Hatte ich den wirklich als Babysitter angestellt? Er war so viel größer als ich. Wie sollte ich es je schaffen, diesem Mann Anweisungen zu erteilen? Mich auf die Zehenspitzen stellen und ihm befehlen, diese Spielsachen jetzt auf der Stelle aufzuräumen? Panik keimte in mir auf.
»Peter. Ich bin so froh, dass Sie da sind.«
»Sie sehen aber nicht so aus.«
»Nein, wirklich. Das wird toll. Ganz toll!«
Im Wohnzimmer schien die Nachmittagssonne durch die gelben Seidenvorhänge und beleuchtete die Bücherstapel auf dem Tisch und die großen Tupperware-Boxen, die darauf standen. Ich bedeutete Peter, sich in einen Sessel zu setzen, während ich selbst auf dem Sofa Platz nahm.
»So! Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Würde er jetzt ein Bier haben wollen?
»Gern.«
Ich sprang hoch wie eine Aufziehpuppe.
»Ginger Ale. Wenn Sie das nicht haben, tut’s auch’ne Cola.«
Ich holte ein wenig Eis aus der Eiswürfelmaschine und wollte sie gerade in ein Highballglas füllen, als ich innehielt. Sendete ich etwa die falschen Signale? Er war schließlich kein Gast, er gehörte zum Hauspersonal.
Peter besah sich inzwischen die Tupperware-Boxen. Auf der einen stand MEDIKAMENTE FÜR KINDER, auf der anderen MEDIKAMENTE FÜR DEN NOTFALL. Neben dem Tisch stand ein Karton mit der Aufschrift: HAUSHALTSBOX FÜR NOTFÄLLE. Ich hatte das Ganze in jenem schrecklichen Herbst des 11. September zusammengestellt. Daneben lag eine Mappe mit allen möglichen wichtigen Telefonnummern. Dazu - farbcodiert - die Wochenpläne der Kinder, geordnet nach Kind, Fach, Sportart oder kultureller Aktivität. Meine Mutter war Bibliothekarin an der örtlichen Schulbücherei gewesen, ich war also in einem Haushalt aufgewachsen, in dem Abstellkammer und Garage nach dem Prinzip des Dewey-Dezimalsystems geordnet worden waren. Wenn ich also manchmal etwas zwanghaft wirke, dann ist das ausschließlich die Schuld meiner Mutter.
Die Uhr auf dem Kaminsims tickte laut, und Peter saß stumm da und sah mich mit einem höflich-aufmerksamen Ausdruck an. »Also, dann erkläre ich Ihnen am besten erst mal, wie die Dinge hier so laufen...«
»Was für Dinge?«
»Na ja, das Haus zum Beispiel. Der Haushalt.«
»Sie meinen, wie eine kleine Firma?«
»Nein, das sind bloß die Stundenpläne der Kinder.«
»Gibt’s auch ein Handbuch fürs Personal?«
»Haha. Nein, aber Personal gibt’s schon. Da wären das Kindermädchen, Yvette, und Carolina, unsere Haushälterin. Beides wundervolle Frauen, aber sie werden sicher ein Weilchen brauchen, um sich an Sie zu gewöhnen.«
»Nein, werden sie nicht. Wo sind sie?« Er war aufgestanden.
»Moment! Lassen Sie uns zuerst ein paar Dinge besprechen... Ich meine, wenn das für Sie in Ordnung ist. Ich meine, Sie fühlen sich doch wohl, oder? Es gefällt Ihnen hier?«
»Sicher. Ich bin jetzt seit sieben Minuten da und fühle mich prima.« Er grinste. »Sind Sie sicher, dass Sie sich wohlfühlen?«
War ich derart durchschaubar? Ich ordnete nervös meine Papiere. Immer noch wusste ich nicht so recht, wie ich mit diesem erwachsenen Mann reden sollte, ohne überheblich zu erscheinen. Und dann dachte ich, wie sexistisch es doch war, dass es mir offenbar leichter fiel, das weibliche Personal herumzukommandieren (es zumindest zu versuchen) als einen
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