Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Schuldgefühlen geplagt wurde. Ich hatte mich bloß darin getäuscht, wo die Schuldgefühle herrührten.
James kehrte zurück, als Barbara Jean gerade dabei war, ihr Gesicht wieder in Ordnung zu bringen und sich die verschmierte Wimperntusche mit Hilfe einer Handvoll Taschentücher abwischte. Mein guter James verstand die Situation falsch und ging neben meiner Freundin in die Hocke, um ihr beruhigend die Schulter zu tätscheln. »Mach dir keine Sorgen, Barbara Jean«, sagte er zu ihr. »Sie wird es schaffen.«
Barbara Jean stopfte die Taschentücher zurück in ihre Handtasche und antwortete: »Ich weiß, das wird sie. Aber manchmal überkommt es einen eben.« Sie küsste James flüchtig auf die Wange und verließ das Zimmer. Dabei ging sie zwischen all den Leuten hindurch, die für sie unsichtbar waren, aber ihrer Geschichte gelauscht hatten.
Mama weinte, als sie Barbara Jean nachsah. »So viel Kummer. Diese Seite des Lebens vermisse ich wirklich nicht.«
Ich schloss die Augen, obwohl ich nicht mit Gewissheit sagen kann, dass sie vorher wirklich offen waren, und schlief ein. Ich flog wieder nach Leaning Tree, zu dem glitzernden Bach und meinem Platanenbaum.
Als ich wieder aufwachte, war es draußen dunkel, und James schnarchte auf dem Besucherstuhl. Mrs Carmel Handy, die pensionierte Lehrerin, die ihren Mann einst mithilfe einer gusseisernen Pfanne auf den Pfad der Tugend zurückgeführt hatte, stand am Fußende meines Bettes. Ich war überrascht, sie zu sehen. Ich hatte nichts gegen Miss Carmel, ich hatte bloß nie viel mit ihr anfangen können, als ich noch ihre Schülerin war. Und daran hatte sich auch in den Jahrzehnten danach nichts geändert. Aber da stand sie nun, schick angezogen, und besuchte mich im Krankenhaus. Dann sah ich, dass sie sich mit Mama unterhielt, und wusste, dass sie das Boot ins Jenseits genommen hatte.
Ich sagte: »Hallo, Miss Carmel. Ich wusste gar nicht, dass Sie verstorben sind. Ich hätte Ihrer Familie doch sonst einen Schinken vorbeibringen lassen.«
»Ist gerade erst heute passiert. Und ich sage dir, es kam völlig überraschend. Es war nach dem Abendessen, und ich war gerade beim Abräumen, da packten mich Verdauungsprobleme, das dachte ich wenigstens. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich vom Küchenboden aufstehe und meine Arthritis weg ist und ich wieder meine echten Zähne habe. Und dann hat mich etwas hierher gezogen. Und jetzt weiß ich auch warum. Hör mal, ich hätte da einen kleinen Auftrag für dich.«
Die eiserne Lady kam näher und flüsterte mir eine Botschaft für James ins Ohr. Genau wie ich es auch schon Lester erklärt hatte, sagte ich ihr, dass ich wahrscheinlich nicht mehr dazu käme, mit den Lebenden zu sprechen. Aber ich musste ihr dennoch versprechen, es zu versuchen.
Den fünften Morgen im Krankenhaus verschlief ich komplett und träumte – jeden Tag verbrachte ich mehr Zeit damit. Aber am Nachmittag nahm ich wahr, dass meine Kinder mich besuchten. Denise, Jimmy und Eric kamen voller Hoffnung und guten Mutes herein. Sie brachten James auf den neuesten Stand, was die Enkelkinder, ihre Partner und das Leben im Allgemeinen betraf. Sie machten alles, was ich gewollt hätte, damit sich ihr Vater besser fühlte. Ich war so glücklich und stolz, dass ich alle Kraft zusammennahm, um durch den wässrigen Nebel meines Verstandes zu schwimmen und ihnen zu danken. Eine Weile funktionierte es. Ich bekam ein paar Worte heraus – die einzigen Worte zu lebenden Menschen an diesem Tag. Aber nachdem ich jeden ihrer Namen ausgesprochen hatte, verließ mich die Kraft, und ich versank wieder im Nebel. Da welkte die Fassung meiner Kinder dahin wie die wuchernden Blüten in meinem Garten. Erics Lippen fingen an zu zittern. Jimmy begann zu schniefen. Aus Denises Augen quollen Tränen. Meine großen Jungs vergruben ihre Köpfe an den Schultern ihrer Schwester und schluchzten. Die ganze Szene war noch herzzerreißender, weil Jimmy und Eric größer waren als Denise und sich deshalb zusammenkauern mussten, um Trost zu suchen. Das war der Anblick, vor dem ich mich gefürchtet hatte. Ich war erleichtert, dass er sich auflöste, als ich ins Grau zurückkehrte.
Als ich wieder erwachte, war das Zimmer erfüllt vom warmen Licht der Nachmittagssonne. Außerdem war es voller Leute. James hielt meine Hand. Er hatte so dichte Stoppeln im Gesicht, dass ich mich fragte, ob wohl mehr als ein Tag vergangen war, während ich geschlafen hatte. Meine drei Kinder standen neben
Weitere Kostenlose Bücher