Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
eigentlich schon von der Zeit erzählt, als ich Krebs hatte?«
Als ich eine Weile nichts sagte, fing Alex an, schneller zu sprechen, in dem Glauben, er müsse mir irgendeine Art von Zuspruch geben. Aber ich war nicht diejenige, die Zuspruch brauchte. Hinter ihm auf der Fensterbank saß Mama und hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen. Und sie weinte, wie ich sie noch nie zuvor hatte weinen sehen.
Mama murmelte: »Nein, nein, das kann doch nicht sein. Das ist zu früh.«
Mrs Roosevelt, die auf dem Sofa an der Wand von Alexs Behandlungsraum gelegen hatte, stand auf und ging zu Mama hinüber. Sie tätschelte ihr den Rücken und flüsterte ihr ins Ohr, aber was auch immer sie sagte, es erfüllte seinen Zweck nicht. Mama weinte weiter. Sie weinte jetzt so laut, dass ich Alex kaum noch verstehen konnte.
Schließlich brach ich mein Vorhaben, nicht in Anwesenheit von Lebenden mit den Toten zu sprechen, und sagte: »Schon gut. Wirklich, alles gut. Da gibt’s nichts zu weinen.«
Alex hörte auf zu reden und starrte mich einen Moment lang an, weil er annahm, ich redete mit ihm. Offenbar nahm er meine Worte als Erlaubnis, aus sich herauszugehen, denn Sekunden später war er von seinem Stuhl aufgesprungen und kauerte sich vor mich hin. Er vergrub sein Gesicht auf meinem Schoß, und bald darauf spürte ich, wie seine Tränen langsam durch meinen Rock drangen. »Es tut mir so leid, Ma«, sagte er. Dann entschuldigte er sich, nicht professioneller damit umzugehen, und putzte sich die Nase mit einem Taschentuch, das ich aus der Box, die auf seinem Tisch stand, gezogen und ihm gereicht hatte.
Ich rieb ihm den Rücken, froh darüber, ihn trösten zu können, statt mich von ihm trösten zu lassen. Ich beugte mich vor und flüsterte: »Ssch, ssch, nicht weinen.« Aber während ich es sagte, starrte ich hinüber zu meiner Mutter, die noch immer in Eleanor Roosevelts Fuchsstola schluchzte. »Ich habe keine Angst. Kann ich gar nicht, schon vergessen? Ich wurde in einem Platanenbaum geboren.«
12
Clarice drehte sich auf ihrem Stuhl um, um einen guten Überblick über das neu dekorierte All-You-Can-Eat zu bekommen. Halloween stand vor der Tür, und das Diner war für diesen Feiertag herausgeputzt worden. Die Fenster waren von Spinnweben aus Watte verhangen. Eine Totenkopfgirlande aus Krepppapier schmückte die Kasse. Als Hauptattraktion waren alle Tische mit winzigen orangefarbenen Kürbissen, gold-grün gestreiftem Flaschenkürbis und einem kleinen Weidenkörbchen gefüllt mit Candy-Corn-Bonbons geschmückt. Es war nicht gerade der hübscheste Anblick, den Clarice je gesehen hatte, aber zumindest verdeckte der Schmuck das schreckliche neue Restaurantlogo auf den Tischdecken.
Aber egal wie sie über das neue Logo dachte, es war klar, dass sich dieser Affront gegen ihren Geschmack in absehbarer Zeit nicht ändern würde. Die Studenten von der Uni hatten Little Earls T-Shirts mit den großen roten Lippen, der pinken Zunge und den anzüglichen Früchten für sich entdeckt. Nun kam ein anhaltender Strom junger Leute ins All-You-Can-Eat , um herumzukichern und die gewagten Merchandisingartikel des Restaurants zu kaufen. Little Earl machte damit ein kleines Vermögen.
Die Supremes, Richmond und James saßen alle auf ihren üblichen Plätzen am Vorderfenster. Barbara Jean zuliebe hatten Odette und Clarice nach Lesters Tod versucht, die Sitzordnung immer etwas zu variieren: In der einen Woche hatten sie die Männer auf der gegenüberliegenden Seite platziert und in der Woche darauf James in der Mitte und Richmond auf Lesters Platz. Aber es nutzte nichts. Je mehr sie sich bemühten, Lesters Abwesenheit zu ignorieren, desto stärker war sie spürbar. Schließlich machte Barbara Jean dem Stuhltanz ein Ende und verkündete, es sei ihr lieber, wenn die Dinge so blieben, wie sie immer gewesen waren.
Alle waren müde in dieser Woche. Richmond gähnte alle paar Minuten, was Clarice nicht überraschte, weil er mal wieder die ganze Nacht weggeblieben war. Barbara Jean war seit Lesters Tod nicht mehr richtig wach gewesen. Sie tat zwar so, als sei sie in Ordnung, aber ihre Gedanken schweiften unaufhörlich ab. Clarice hatte das Gefühl, dass Barbara Jean nur halb anwesend war, wenn sie mit ihr sprach. James war schon seit seiner Kindheit etwas verschnarcht. Und Odette schlief an diesem Nachmittag tatsächlich am Tisch ein.
Clarice selbst war erschöpft, weil sie die ganze Nacht lang Klavier gespielt hatte. Sie hatte angefangen sich auf die Musik
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