Mueller, Carin
Insofern war die Episode mit Max vielleicht doch gut und wichtig gewesen, immerhin hatte sie ihr erst die Augen und dann das Herz geöffnet. Und jetzt lag er neben ihr, der Mann, der sie im wahrsten Wortsinn bedingungslos liebte, und sie hatte nicht vor, ihn jemals wieder gehen zu lassen. Diese plötzliche Erleuchtung traf sie wie ein Schlag: Giovanni war ihr Mann! Giovanni! War! Ihr! Mann!! Fast hätte sie laut aufgelacht. Sollte sie ihn wecken und ihm von ihrer plötzlichen Einsicht berichten? Sie strich ihm behutsam über das unrasierte, kantige Kinn und küsste ihn am Hals. Dann kratzte es an der Schlafzimmertür, und Olga fiepte. Mist! »Ich liebe dich!«, raunte sie ihm ins Ohr und stand leise auf.
Katia hatte sich nur äußerst ungern von Giovanni losgerissen, aber Olga musste offensichtlich dringend raus. Deshalb hatte sie sich schnell in die nächstbesten Klamotten geworfen und war mit ihrem Hund hinausgegangen. Das Jahr zeigte sich an seinem letzten Tag noch einmal von der besten Seite. Gestern hatte es wieder ein bisschen geschneit, und heute war es eisig kalt, aber sonnig. Die Schneekristalle funkelten mit Katias Augen um die Wette. Ich liebe dich! – Das hatte sie tatsächlich zu ihm gesagt! Und es war schlicht die Wahrheit. Völlig überwältigt von diesem historischen und bislang einzigartigen Gefühl war sie mit einem so ansteckenden Lächeln durch die Straßen gelaufen, dass einige Passanten spontan zu lachen angefangen hatten. Das Leben war einfach schön. Olga sah das offenbar ähnlich, denn sie hatte sich im Park ausdauernd und begeistert im Schnee gewälzt und sah aus wie ein kleiner, dicker Eisbär. Auf dem Heimweg hatte Katia noch Brötchen fürs Frühstück gekauft, und jetzt wollte sie nur noch zurück in ihre Wohnung.
»Kathi! Bist du blind oder taub oder beides??« Katia fuhr herum und sah, dass auf der anderen Straßenseite Antonella stand und ihr winkte. Jetzt lief sie über die Straße und baute sich grinsend vor ihrer Freundin auf. »Und offenbar auch stumm«, fügte sie hinzu, als Katia sie nur leicht verwirrt anstarrte. »Ich habe dich zweimal rufen müssen. Alles klar?«
»Äh, ja, alles bestens. Entschuldige, ich war mit den Gedanken ganz woanders.«
»Ich nehme an, bei meinem Bruder in deinem Schlafzimmer. Stimmt’s?«
»Sieht man das?« Katia klang leicht erschrocken.
»Auch, aber vor allem hat man es in den letzten Tagen praktisch nonstop gehört.« Antonella lachte, als Katia rot wurde. »Immerhin wussten wir so, dass es euch gut geht, und inspirierend war es durchaus auch …« Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Aber gut, dass ich dich jetzt treffe, ich wäre sonst später raufgekommen und hätte euch am Ende noch gestört. Ich wollte nämlich fragen, ob ihr heute Abend schon was vorhabt oder ob ihr zu uns zum Essen kommen wollt?«
»Essen? Heute Abend?«
»Ja, du weißt schon, Nahrungsaufnahme und gemütliches Beisammensein im Kreise der Familie anlässlich Silvester.«
»Silvester?«
»Kathi, stehst du unter Drogen, oder hat dir mein Bruder wirklich das letzte bisschen Verstand rausgevögelt?«
»Nein!«, empörte sich Katia. »Alles klar, Essen bei euch. Heute. Silvester. Kein Problem. Wann sollen wir kommen?«
»Wann immer ihr wollt. Aber spätestens um acht, würde ich sagen. Sag mal, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist bei dir? Du machst einen etwas, wie soll ich sagen, derangierten Eindruck.« Sie musterte Katia, die eine knallrote Schlabber-Jogginghose trug, deren Beine in lila Lammfellboots steckten. Darüber hatte sie eine riesengroße, dunkelblaue Daunenjacke an, die wohl Giovanni gehörte. Ihr Gesicht, das im Grunde nur aus einem einzigen grenzdebilen Grinsen, roten Wangen und riesigen Strahleaugen bestand, wurde von ihrer wirren roten Mähne eingerahmt, auf der eine grüne Pudelmütze thronte.
»Mir geht’s gut!«, versicherte nun Katia, die sich sichtbar zusammenreißen musste, ihr Glück nicht laut herauszuschreien. »Mir geht’s sogar sensationell! Antonella, ich liebe deinen Bruder!!«
»Ach, und ich dachte schon, es wäre was Ernstes …«
»Das ist was Ernstes!«
»Ja, aber nichts Neues, Süße.« Antonella legte ihrer Freundin einen Arm um die Schulter und drückte sie. »Aber ich freue mich wirklich sehr, dass es dir jetzt auch klar geworden ist. Und was sagt Giovanni dazu?«
»Der weiß es noch nicht. Ich weiß es ja selbst erst seit einer knappen Stunde, und da hat er noch geschlafen.«
»Also, worauf wartest du noch?
Weitere Kostenlose Bücher