Mueller und die Tote in der Limmat
trudelt auf dem Velo zufällig Sebastian Fuhrer vorbei. Sein Bekannter, der früher als Kellner gerade gegenüber im Bahnhöfli Wiedikon und der gestern Abend vor dem S-Bahn-Wagen nach der Nachricht von Sandras Tod so still verstummte und schnell verschwand.
«He, Sebastian», ruft der Müller, und das hört jeder bis ins Triemli rauf.
Aber Sebastian offenbar nicht.
Ein Zufall, dass der gerade jetzt am Tatort der Brachialgewalt auftaucht? Der Müller glaubt natürlich nicht an den Zufall, weil «per Zufall», das ist immer gelenkt von einem Gott oder Hintergrund mit Motiv und irgendwie beeinflusst oder sogar hervorgerufen. Davon ist der Müller überzeugt.
«He, Sebastian!»
Sebastian schaut demonstrativ starr und sehr auffällig in die andere Richtung und reagiert erst verdächtig verzögert auf des Müllers Zuruf. Erst jetzt bremst er langsam ab. Und das ist schon seltsam, das hat man nach neunzehn Jahren bei der Polizei im Blut und im Fleisch. Recht dramatisch, nicht?
«Oh, Müller», sagt Sebastian auffällig cool. Aber er ist ein mieserabler Schauspieler, weil eigentlich ist er gar keiner, sondern einer, der jetzt beruflich was weiss ich macht. Und ich habe das Wort «mieserabel» extra so falsch geschrieben, weil das negativ konnotierte Epitheton denigrans, also Miesmachadjektiv mies, so noch deutlicher hervortritt. Aber genug.
«Was machst du hier?», sagt der Müller, ein grosses Fragezeichen hängt in der Luft, aber seine Stimme schon ein wenig wie eine rasiermesserscharfe Frage. Schon sauverdächtig, ehrlich gesagt.
«Ach, bin unterwegs ins Bahnhöfli», sagt Sebastian.
Steht ja gerade gegenüber, dem Sebastian sein früherer Arbeitsplatz Restaurant Bahnhöfli Wiedikon. Aber der Müller ist doch nicht sehbehindert. Sebastian hat mit dem Velo nicht das Bahnhöfli angesteuert, sondern war ganz deutlich sichtbar in Richtung Schmiede Wiedikon eingespurt, also stadtauswärts. Aber Radfahrer und Verkehrsregeln heutzutage … Ich sag dir. Also ist die Aussage vielleicht wahr, vielleicht auch nicht. Müller ist das suspekt.
Am Boden vom Trottoir liegt noch immer wie ein zusammenzerknülltes Wrigley-Papier der muskulöse Kleiderschrank mit der alten Kopfform und mit zwei schlaffen Fäusten, eine links, eine rechts. Sebastian schaut den Kleiderschrank an und sagt: «Was ist denn hier los?» Und dem Müller scheint, ein Funken des Erkennens sei in den Augen vom Sebastian aufgeglommen. Hat der Angreifer, und haben vielleicht seine Hintermänner, (wer sind sie?) nicht mit dem Müller seiner Nahkampfausbildung gerechnet, erprobt am 1. Mai und nach Fussballspielen.
Und der Müller reagiert schnell:
Sebastian runtergeholt vom Velo, Gesicht zur Wand, zack: Beine auseinander, abtasten. Jetzt ist Sebastian voll perplex. Weil weiss ja nicht, dass der Müller eigentlich Polizist ist. Ziemlich sicher weiss er es nicht. Für ihn ist die Situation so: Da fährst du mit dem Velo am Bahnhof Wiedikon und dann an der Post vorbei, ein Bekannter ruft deinen Namen, du bremst und hältst an, der Bekannte steht da, mit irrem Blick, am Boden liegt ein komatöser, muskulöser Riese, und plötzlich schubst dich dein Bekannter an die Wand, Gesicht zur Wand, Beine auseinander und abtasten. Da denkst du vielleicht schon: ist bei dem Routine, muss wohl Polizei sein. Also verräterisch. Aber vielleicht, weil alles ratz, fatz, gar keine Zeit zum Denken. Sondern stehst da, Beine auseinander, abtasten, weisst nicht, wie dir geschieht’s.
Abtasten, aber der Müller findet keine Waffen oder illegale Substanzen, nur ein Telefon und darauf nur schwachsinnige Liebes- SMS mit Brigitte. Willst du gar nicht wissen, was da steht: so «Schnucki» und was sie mit ihm gerne machen würde, was er ihr schon vorgeschlagen hat. Ist wirklich Sebastians Privatsache. Doch Müller unterscheidet nicht zwischen privat und nichtprivat. Wenn du die private Maske herunterreisst, findest du vielleicht den Schlüssel zum Geheimnis. Der Müller liest also in Sebastians Mobiltelefon «Brigitte» und denkt: Diesen Namen habe ich doch auch schon gehört. Gut, ist nicht selten.
Und Sebastian wieder seine Fassung gefunden und sagt zum Müller: «Sonst bist du noch gesund?»
Aber meint natürlich das Gegenteil.
Und der Müller grimmig und stumm.
Und nachdenklich. War ja schon etwas extrem, sein Verhalten, gleich vorher.
Und der kugelköpfige Kleiderschrank verlässt die Reglosigkeit, die wirkte wie Bewusstlosigkeit, und stemmt sich wieder auf die Beine, keucht
Weitere Kostenlose Bücher