Muensters Fall - Roman
hautenge Strampelanzug seiner Frau und die blonde Haarpracht, die mit einem Stirnband in Rot und Gold zurückgehalten wurde.
»Bitte schön«, sagte sie und zeigte ihr geglücktes Gesichtslifting, indem sie die Augen aufriss. »Ich heiße Blenda.«
»Inspektorin Moreno«, sagte Moreno und fischte ihren Notizblock aus der Aktentasche. »Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben, aber natürlich muss ich in erster Linie mit Ihnen, Herr Reijsen, sprechen.«
»Selbstverständlich«, sagte Erich Reijsen, und Blenda machte sich auf flinken Füßen irgendwo anders im Haus nützlich. Nach nur wenigen Sekunden konnte Moreno das charakteristische quietschende Geräusch eines Zimmerfahrrads im höchsten Gang hören.
»Waldemar Leverkuhn also«, sagte sie. »Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, was passiert ist?«
Erich Reijsen nickte mit ernster Miene.
»Wir versuchen, uns ein etwas umfassenderes Bild von ihm zu machen«, fuhr Moreno fort, während ihr Gastgeber Tee in gelbe Tassen eingoss. »Sie waren ein Arbeitskollege von ihm ... wie lange?«
»Fünfzehn Jahre«, sagte Erich Reijsen. »Seit er bei Pixner angefangen hat bis zu seiner Pensionierung. 1991, also ... danach habe ich noch fünf Jahre gearbeitet, und dann wurden Arbeitsplätze abgebaut. Sie haben mir eine frühzeitige Pensionierung angeboten, und da habe ich zugeschlagen. Und ich muss sagen, ich habe es noch keinen einzigen Tag bereut.«
Würde ich auch nicht, dachte Moreno in einem Moment klarer Selbsteinsicht.
»Wie war er?«, fragte sie. »Können Sie mir ein wenig über Waldemar Leverkuhn erzählen?«
Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis Erich Reijsen das Thema erschöpfend behandelt hatte. Moreno wusste sehr viel schneller – nach rund zwei Minuten –, dass der Besuch hier reine Zeitverschwendung war. Das Bild von Waldemar Leverkuhn als ziemlich zugeknöpfter und mürrischer Mensch (aber trotzdem ein zuverlässiger Kerl, Gott bewahre!), das kannte sie schon, und ihr umständlicher Gastgeber war nicht in der Lage, diesem irgendwelche Pinselstriche hinzuzufügen, die das Porträt entscheidend verändert hätten.
Auch brachte er keinerlei dramatische Enthüllungen, Einverständnis heischende Kommentare oder anderes, das in irgendeiner Weise für die Ermittlungsarbeiten von Relevanz hätte sein können.
Ehrlich gesagt hatte sie selbst Probleme, sich vorzustellen, wie so ein relevantes Puzzleteilchen eigentlich aussehen sollte, also notierte sie sich pflichtschuldigst vieles von dem, was Herr Reijsen zu sagen hatte. Das erforderte ziemlich viel Kraft, kein Zweifel – sowohl das Aufschreiben als auch das Wachhalten –, und als sie nach drei grobkörnigen Butterbroten und ebenso vielen Tassen Tee es endlich schaffte, sich aus dem Sofa hochzuarbeiten, war ihr erster Impuls, sich schnurstracks zur Toilette zu begeben und alles wieder auszuspucken. Sowohl Herrn Reijsen als auch die Brote.
Ihr zweiter Impuls war, mit einem Hammer auf das Zimmerfahrrad einzuschlagen, das während ihres gesamten Besuchs sein vorwurfsvolles Quietschen hatte vernehmen lassen, aber auch in dieser Hinsicht gelang es ihr, sich zurückzuhalten.
Außerdem hatte sie sowieso keinen Hammer zur Hand.
Ich bin im Augenblick eine verflucht schlechte Polizistin, dachte sie kurz darauf, als sie endlich wieder hinter dem Steuer ihres Autos saß. Wirklich keine Zierde der Truppe ... nur ein Glück, dass wir momentan nichts Ernsthafteres zu untersuchen haben.
Was sie eigentlich mit dem letzten Satz meinte, wusste sie selbst nicht so recht.
Nichts Ernsthafteres? Nahm sie Waldemar Leverkuhns Tod nicht ernst, oder was sollte das heißen? Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, um etwas wacher zu werden. Es wurde immer offensichtlicher, dass sie sich mit dieser zunehmenden Müdigkeit einer Grenze näherte, an der es vermutlich sicherer war, sich auf die reinen Routinearbeiten zu beschränken. Sich nicht mehr auf das eigene Urteil zu verlassen. Keine Beschlüsse mehr zu fassen. Nicht mehr zu denken.
Zumindest nicht, solange sie nicht einige Nächte hatte schlafen können.
Sie ließ den Wagen an und fuhr Richtung Zentrum. Die Uhr zeigte schon nach fünf, und die Stadt schien zu gleichen Teilen aus Abgasen, Feuchtigkeit und Dunkelheit zu bestehen, eine Mischung, die jedenfalls sehr gut mit ihrem eigenen Zustand korrespondierte. Sie hielt am Keymer Plejn an und kaufte bei Zimmermann’s ein – Joghurt, Saft und Weintrauben,
Weitere Kostenlose Bücher