Muensters Fall - Roman
Nachforschungen in der Unterwelt bezüglich Leverkuhn von Erfolg gekrönt sein würden, aber auch hier nur Fehlanzeige. Der Informant Adolf Bosch hatte sich kurz nach drei eingefunden, seinen Bericht abgegeben und seine zweihundert Gulden einkassiert (aber in umgekehrter Reihenfolge, Bosch war ja nicht auf den Kopf gefallen), und das Ergebnis seiner fragwürdigen Nachforschungen hatte er gegenüber Krause selbst so zusammengefasst:
»Keinen Pups, Herr Wachtmeister. Keinen einzigen Pups!«
Bevor er nach Hause fuhr, gönnte Münster sich noch eine halbe Stunde Selbstreflexion in seinem Zimmer. Schloss die Tür. Löschte das Licht. Zog den Schreibtischstuhl ans Fenster und legte die Füße auf die Fensterbank.
Lehnte sich zurück und schaute hinaus. In gewisser Weise war es einfach schön, das musste man zugeben. Schön und gleichzeitig bedrohlich. Der Himmel wölbte sich langsam, aber unerbittlich wie eine alles verfinsternde Bleikuppel über die Stadt. Die nutzlosen Beleuchtungsversuche, die aus den brausenden
Straßen heraufdrangen, schienen eher die Unbezwingbarkeit der Dunkelheit zu betonen, als dass sie irgendwelchen ernsthaften Widerstand boten.
So war es auch mit seiner Arbeit. Der Hauptkommissar hatte davon geredet ... dass wir erst einen Begriff von dem ganzen Umfang des Bösen bekommen, wenn wir anfangen, es zu bekämpfen. Erst wenn wir ein Licht in der Dunkelheit anzünden, sehen wir, wie groß sie ist.
Er schüttelte den Kopf, um diese weitschweifigen Gedanken loszuwerden. Sie brachten ja doch nichts – außer einem Gefühl der Müdigkeit und Machtlosigkeit, das in dieser fallenden, versinkenden Jahreszeit natürlich einen idealen Nährboden hatte.
Trotz der Worte von Jung und ihm selbst über die nassen, kahlen Baumstämme oder was das noch gewesen war. Die innere Landschaft?
Also: der Fall!, dachte er und schloss die Augen. Der Fall Waldemar Leverkuhn.
Oder war es der Fall Bonger? Oder der Fall Else Van Eck?
Wie sicher war es wirklich, dass sie tatsächlich zusammenhingen, diese drei Glieder einer Kette? Es gab eine alte Faustregel, die besagte, dass es ganz und gar nicht sicher war, ob es da einen Zusammenhang gab, wenn zwei Kinoplatzanweiser ermordet aufgefunden wurden.
Aber wenn ein dritter gefunden wurde — ja, dann konnte man beruhigt davon ausgehen, dass alle Kinoplatzanweiser auf der ganzen Welt unter Personenschutz gestellt werden mussten.
Und jetzt saß er hier mit drei Rentnern. Einem ermordeten und zwei verschwundenen. Bedeutete das, dass alle Rentner auf der Welt unter Polizeischutz gestellt werden mussten?
Glücklicherweise nicht, dachte Münster. Denn es ist ja keine Kunst, die Verbindungen ziemlich radikal schrumpfen zu lassen. Leverkuhn und Bonger sind gute Freunde gewesen. Leverkuhn und Else Van Eck wohnten im gleichen Haus. Bonger und Frau Van Eck dagegen hatten keinerlei Beziehung zueinander – wenn es also überhaupt einen gemeinsamen Nenner geben sollte, dann musste das Leverkuhn sein.
Und Leverkuhn war der Einzige, der ganz sicher tot war. Toter als tot.
Münster seufzte und wünschte, er wäre Raucher. Dann würde er sich jetzt auf jeden Fall eine Zigarette anzünden. Stattdessen musste er sich damit begnügen, die Hände hinter dem Nacken zu verschränken und sich noch weiter auf dem Stuhl zurückzulehnen.
Die Verschwundenen also?, dachte er. Auch hier gab es gewisse Unterschiede. Große Unterschiede. Was Bonger betraf, so hatte er sich eigentlich zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Mordnacht in Luft auflösen können – oder auch noch später. Kein Mensch hatte ihn mehr gesehen, nachdem er Freddy’s verlassen hatte, aber es gab ja auch niemanden, der ihn vermisste, bevor der Sonntag schon ziemlich weit fortgeschritten war. Vermutlich war er niemals bei seinem Boot angekommen, aber das war nur eine Hypothese. Es gab einen Wald an Alternativen und Variationen.
Mit Else Van Eck war das etwas anderes. Hier konnte man den Zeitraum auf eine Stunde zwischen sieben und acht Uhr am Mittwochabend zusammenstreichen, und mit Hinblick auf ihren Umfang und ihr allgemeines Auftreten gab es nicht viel Spielraum. Es sollte doch, dachte Münster, nein, es musste doch ein Zeuge auftauchen! Sie mussten morgen noch mal eine Runde Klinken putzen.
Dann blieb er einfach noch eine Weile mit geschlossenen Augen sitzen, und ihm schien, als könnte er die drei Puzzleteile in einem tiefen, sich verdunkelnden Raum tanzen sehen – wie es das Logo für irgendeine Filmgesellschaft
Weitere Kostenlose Bücher