Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert
man sagen: Die Schwächung des gesamten Formensystems im Deutschen erinnert in vielem an altbalkanische Vorgänge.
Zumindest in der Sprechsprache kann man lautliche Spuren der Vereinfachung entdecken: Besonders das Migrantendeutsch kürzt die langen Vokale, fährt Umlaute und Diphtonge zurück und vereinfacht Konsonanten-Cluster (Abschnitt 15). Spuren davon gibt es auch im Neudeutschen.
Eine neue Steigerung der Adjektive steht noch ganz am Anfang und ist auch den Linguisten noch kaum bewusst (Typ: mehr zugänglich ).
Von solchen Dingen wie dem Ersatz des Infinitivs jedoch ist im Deutschen, soweit zu sehen, nichts zu entdecken. Selbst im Kiezdeutsch ist davon kaum die Rede. Oder sind ÃuÃerungen wie
? Sie will doch dass sie mit Hassan trefft .
? Ich muss nachher noch dass ich ein paar Sachen kaufe.
belegt oder wenigstens denkbar? Dies können wir nicht endgültig entscheiden; es wäre aber merkwürdig, wenn multikulturelle Jugendslangs hiervon gar keinen Gebrauch machten. Denn auch andere Migrantensprachen verfahren so (s.o. Abschnitt 6):
Arabisch: hal yumkin an tustadâÄ sayyÄra ujratan lÄ« ? â¹können Sie DASS Sie rufen ein Taxi für mich⺠= â¹Können Sie mir ein Taxi rufen?âº
Persisch: mituwÄnam be rawam â¹ich kann DASS ich geheâº
Kurdisch: tu yê bi bezî â¹du wirst DASS du rennstâº
Wahrscheinlich ist das balkanisch-orientalische Modell ICH MUSS DASS ICH GEHE viel zu weit vom Deutschen entfernt, als dass es eine Chance auf Nachahmung hätte (und der einfache Infinitiv ist gar zu verlockend!). Und das Englische und andere Eurosprachen sind offenbar zu starke Vorbilder. Fassen wir zusammen:
Auf dem Balkan ist das, was sich aus der langen Beeinflussung von ziemlich entfernten Sprachen ergeben kann, bis zu einem extremen Grad durchgeführt. Balkansprachen sind ein Musterbeispiel für grammatische Simplifizierung als Folge von intensiven Sprachkontakten. Sprachen reduzieren aus kommunikativer Notwendigkeit ihre Grammatik und passen viele Kategorien einander an. Dies weist auf manches hin, was zur Zeit im Deutschen vor sich geht.
12. â¹NEUANGLODEUTSCH⺠UND VEREINFACHUNGEN
Das Englische ist keine Migrantensprache im hier geltenden Sinn, aber eine wichtige Kontaktsprache nicht nur des Deutschen, sondern auch aller Migrantensprachen. Schon deshalb lohnt ein kurzer Blick auf den möglichen Einfluss des Englischen. Englisch ist überall und quer durch alle Schichten und in allen Medien ständig präsent, und deshalb kann es nicht ohne Einfluss auch auf die Paarungen MigrantensprachenDeutsch sein. Auch können heute die meisten Migranten mehr oder weniger Englisch â ganzbesonders Vertreter der zweiten und dritten Generation. Englisch hört man überall, in der Internetwelt, den Talkshows, im Denglisch der Wirtschaft und im privaten Cyber-Talk über alles Mögliche. Ãberhaupt ist Denglisch das Lieblingskind der Linguistik, und das Internet stellt eine Menge Vorzeigesätze zur Verfügung:
â «Ich musste die Harddisk neu formatieren, weil der falsch gesteckte Jumper zur data corruption geführt hat und der Computer ge crash t ist.»
So lauten die gängigen Zitiersätze der Medien, und jede Talkshow hat ihren Denglisch-Anteil, der Prestige, In-Sein, Spezialwissen und Identitäten befördert. Denglisch-Wörter sind allgemein bekannt, vor allem deswegen, weil man ihnen nicht entrinnen kann: Display, Dresscode, Fake, Feedback, deadline, layout, outdoor, mainstream, smart phone etc. Es sind aber nicht nur die Nomen, sondern es entstehen auch laufend neue Verben ( googlen, recyceln, uploaden, scannen ) und neue Adjektive ohne Flexion: ein super Typ, Zirkus total, Urlaub all-inclusive . Und obwohl es für die meisten Wörter ein deutsches Ãquivalent gäbe , sind künstliche Anstrengungen hier immer zum Scheitern verurteilt. Bastian Sick (III, 92 f) führt hier sogar 100 deutsche Ausdrücke auf, mit denen man die Anglizismen ersetzen könnte (was natürlich in der Praxis nicht funktioniert).
Das neue Englisch-Amalgam ist eine globale Erscheinung und wird überall entweder gefürchtet oder gefördert: Denglisch (Deutsch + Englisch) hat seine Pendants im Franglais, Finglish, Japalish oder Hindish . Ãber die bemühte Konzentration auf das weithin sichtbare Vokabular vergessen Linguisten und Sprachpfleger aber oft die versteckten Einflüsse und
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