Mundtot nodrm
er es wusste. Vermutlich würde jetzt, dank seines Eingreifens, alles seinen geregelten Weg gehen, grübelte er und spielte mit dem Wagenschlüssel.
Noch während er beschloss weiterzufahren, überfielen ihn finstere Gedanken. Wäre sein junges Leben anders verlaufen, mit einer normalen Kindheit, mit einer Ausbildung, die seinen Fähigkeiten entsprach, dann säße er jetzt nicht hier. Dann hätte er einfach zur Polizei gehen und alles erzählen können. Aber daran war jetzt nicht mehr zu denken.
Die Albträume, die ihn plagten, würde er vermutlich nie mehr loswerden. Ein ganzes Leben lang nicht.
111
Boris war nicht mehr heimgefahren. Solange sich Lars Konarek noch irgendwo zwischen Schwabmünchen und Krumbach aufhalten musste, machte es keinen Sinn, nach Aichelberg zurückzufahren. Immerhin musste Boris zwei Mal täglich Pflichtmeldepunkte aufsuchen. An diesem Morgen würde es sich entscheiden, ob das Projekt als gescheitert zu erklären war. Eine große Verantwortung, die ihm niemand abnahm. Mit seiner Mutter brauchte er gleich gar nicht darüber zu reden, weil sie keinerlei Verständnis für sein Engagement aufbrachte. Weder sie noch sein Vater hatten jemals akzeptiert, dass er kein Kind mehr war, das man je nach Laune verprügeln konnte. Nein, damit war jetzt Schluss. Der Kontakt zu Konarek hatte ihm zu Selbstbewusstsein und größerer innerer Stärke verholfen. Gleichzeitig waren die Auftritte im Musical ›Barbarossa‹ dazu angetan, seine Defizite im sozialen Verhalten auszugleichen. Er war fest entschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen. So bald wie möglich wollte er die Lehre als Bauarbeiter aufgeben. Sie überforderte ihn, den zwar großen, aber muskelschwachen jungen Mann, körperlich bis zur Grenze der Belastbarkeit, während sein Intellekt verkümmerte. Da half es ihm auch nicht, dass ihn der Chef des Bauunternehmens schon mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass ein solider Lehrberuf ein guter Grundstock für die Weiterbildung bis hin zum Bauingenieur sein könne. Doch neuerdings kamen ihm arge Zweifel, ob er jemals noch diese Chancen ergreifen würde.
Boris hatte auf der Ladefläche des Geländewagens gedöst, war dann in den Schlafsack gekrochen und unter einem Berg von Decken eingeschlafen. Als Proviant hatte er zwei Kisten Mineralwasser, Kekse, Bananen und allerlei süßes Gebäck an Bord, das er an einer Tankstelle gekauft hatte. Etwas Ersatzkleidung und Unterwäsche steckte in einer großen Sporttasche.
Er war schon im Morgengrauen frierend zu den letzten beiden Meldepunkten Thannhausen und bei Zusmarshausen zurückgefahren. Doch das einzig Positive daran war die Wärme des Führerhauses. In den versteckten Kassetten fand sich kein einziger Hinweis auf Konarek. War er von der Route abgekommen? Aber wenn es so wäre, warum ging er nicht einfach in einen Ort und rief von einer Telefonzelle aus an, um ein Lebenszeichen von sich zu geben? Hatte er keine Münzen, keine Telefonkarte? Okay, dachte Boris, Lars war ein harter Knochen und kein Typ, der sich Niederlagen eingestehen wollte. Aber wenn er sich gar nicht meldete, musste ihm doch klar sein, dass Boris Alarm schlug. Mit Sicherheit gab das dann ein größeres Aufsehen, wenn Hubschrauber und Bereitschaftspolizei die Gegend absuchten.
Nein, er durfte nicht mehr länger zögern.
Boris startete den Motor des Geländewagens und wendete auf einem Waldweg. Auf den Bäumen klebte dicker Raureif, was der Landschaft ein fast weihnachtliches Flair verlieh. Dies allerdings ließ auch darauf schließen, dass es eine sehr kalte Nacht gewesen war. Wie konnte ein Mensch das ohne Schlafsack und Zelt im Freien überstehen?
Überstehen?, hallte es in Boris’ Kopf. Vielleicht hatte es Lars ja gar nicht überlebt.
114
Linkohr war es gelungen, Patrick Moser noch an diesem Sonntagabend telefonisch zu erreichen. Er erklärte ihm, man benötige ihn möglicherweise als Zeugen in einer »komplexen Angelegenheit«, weshalb ein persönliches Gespräch geboten sei. Auf Mosers Frage, worum es denn ginge, wich Linkohr aus und drängte auf ein sofortiges Treffen. Schließlich willigte der Unternehmer ein. Knapp eine Stunde später saßen sich die beiden Männer in Mosers Ulmer Wohnung gegenüber.
Linkohr hatte sich während der Fahrt einige Floskeln zurechtgelegt, um nicht gleich auf sein Anliegen zu sprechen zu kommen. Der Unternehmer, braun gebrannt und mit einem Designer-Pulli bekleidet, gab sich wortkarg. Das änderte sich auch nicht, als Linkohr
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