Mundtot nodrm
ein radikaler Kahlschlag bei Steuern und Subventionen erfolgen und das gesamte System vereinfacht würde, ohne Ausnahmen und mit klaren Regeln für die Zukunft. Wir müssen den Kapitalismus vor den Kapitalisten retten, liebe Freunde.«
Am Beifall erkannte Bleibach, dass er erneut den Nerv seiner Zuhörer getroffen hatte. Er konnte sich plötzlich auf den kommenden Samstag freuen, weshalb er im abebbenden Applaus anfügte: »Euch und uns, liebe Freunde, wünsche ich einen herrlichen Frühling. Denkt daran: Mit dem heutigen Tag wird’s wieder heller. Und wir können dazu beitragen, dass auch wir einer neuen Aufbruchstimmung entgegengehen. Ich sage deshalb nur eines zum Abschied: Frühling in die Herzen!«
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Unterdessen hatte sich bei den Medien herumgesprochen, dass es bei Konareks Überlebensexperiment eine Panne gegeben haben könnte. Die Suchaktion, die am Vormittag fortgesetzt wurde, war nicht unbemerkt geblieben. Außerdem meldeten die privaten Radiostationen, Konareks Betreuer sei telefonisch nicht mehr zu erreichen. Auch Sander, der über den ›Überlebenskampf‹, wie ein Boulevardblatt das Vorhaben tituliert hatte, nur beiläufig berichtet hatte, war auf Konareks angebliches Verschwinden aufmerksam geworden. Sein erster Gedanke war, es könne sich um einen PR-trächtigen Gag handeln. Für das Geislinger Lokalblatt jedenfalls war das Geschehen viel zu weit weg. Interessant erschien Sander jedoch, dass Boris Seifried, von dem er wusste, dass er Konarek betreuen würde, ebenfalls nicht mehr erreichbar war.
Er überlegte, ob Häberle wohl wusste, um wen es sich bei dem Betreuer handelte. Sander gelangte zu der Überzeugung, dass dies zumindest die zuständige bayerische Polizeiinspektion längst herausgefunden hatte. Er wollte sich deshalb zurückhalten, um Boris nicht allzu sehr in die Schusslinie zu bringen. Dies hatte er ihm schließlich zugesichert. Der junge Mann, so schien es ihm, war ohnehin genug vom Schicksal gebeutelt. Vielleicht war ihm sogar etwas zugestoßen.
Sander blätterte in den Göppinger Kreisnachrichten. Die Kollegen stimmten ihre Leser auf die Großkundgebung auf dem Hohenstaufen ein. Während sich ein Artikel mit den Vorbereitungen, vor allem mit dem Parkplatz- und Sicherheitsproblem, befasste, wurden in einem anderen Bericht Kommunalpolitiker aller Parteien zitiert, die mehr oder weniger direkt Bleibach kritisierten und ihm vorwarfen, das demokratische Parteiensystem zerstören zu wollen. Immer wieder klang zwischen den Zeilen an, dass es gefährlich sein könne, alle Hoffnung in eine einzige Person zu setzen. Der Verfasser eines Kommentars stellte fest, dass auch Obamas Stern in den USA sehr schnell verblasst sei. Weiter hieß es: ›Wäre eine einzige Person der Staat, stünde es um unsere Demokratie schlecht.‹
Das mochte zwar stimmen, dachte Sander, aber auch eine Demokratie brauchte ehrliche und aufrechte, vor allem aber realistische Visionäre, die mit der Kraft ihrer positiven Gedanken eine neue Ära einläuten konnten. Doch die Recherchen der vergangenen vier Monate hatten ihm zunehmend den Eindruck vermittelt, als ob die Mächte, die im Hintergrund die Fäden spannen, gewaltiger waren als der Wille des Volkes. Selbst in der Redaktion schieden sich die Geister an Bleibachs Auftritten. »Der wird noch sein blaues Wunder erleben«, resümierte einer der Journalisten.
Allerdings spürten alle, dass sich seit der Atomkatastrophe von Fukushima ein Wandel in der öffentlichen Meinung breitmachte. Der Glaube an die bisherige Obrigkeit schien so schnell wie nie zuvor ins Wanken geraten zu sein. Und Bleibach verstand es trefflich, diese Stimmung aufzunehmen. Dass seine Großkundgebung einen Tag vor der Baden-Württembergischen Landtagswahl stattfand, passte bestens ins Konzept. Allerdings war damit auch die Gefahr für Attacken um ein Vielfaches gestiegen.
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Ferdinand Gutwein, der Gewerkschaftsfunktionär aus München, war über den Grund von Linkohrs Anruf überrascht. »Dass Sie sich gerade jetzt bei mir melden, ist ein seltsamer Zufall«, erklärte der Mann mit harter Stimme. »Ich hätte Sie heute auch noch angerufen.«
»Ach?«, staunte Linkohr, der routinemäßig damit begonnen hatte, die Personen zu überprüfen, deren Namen auf Miriam Treibers Computer gefunden worden waren. »Was wäre denn der Grund gewesen?«
»Bei Ihnen läuft doch am Wochenende die große Kundgebung mit Bleibach«, kam der Gewerkschafter gleich zur Sache. »Ich hatte da vor
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