Mundtot nodrm
gebracht. Viertausend. Eine phänomenale Anzahl. Schon als ihn der Ortsvorsitzende von Düsseldorf angekündigt hatte, war frenetischer Beifall aufgebrandet. Vor der Bühne standen dicht gedrängt Kameraleute und Fotografen. Es war einer dieser Momente, die Bleibach liebte – auch wenn er jedes Mal aufs Neue gegen das Lampenfieber anzukämpfen hatte. Zwar kannte er seine Rede inzwischen auswendig, doch legte er sich trotzdem einige Blätter mit dem grob skizzierten Ablauf seiner Themen und Argumente aufs Rednerpult. Inzwischen jedoch fühlte er sich auch sicher genug, um spontane Einfälle einfließen zu lassen. Manchmal sogar eine humorvolle Bemerkung. Von Woche zu Woche, das spürte er, war er sattelfester geworden. Und seit ihm eine unglaubliche Woge der Sympathie entgegenschlug und er – wo immer er auch sprach – die Säle, Hallen und Plätze füllte, wurde ihm stets bewusster, wie sehr ihn die Menschen herbeisehnten. In Augenblicken wie dem jetzigen konnte er sogar über sich selbst erschrecken. Über seine eigene Courage.
Wenn er auf das vergangene halbe Jahr zurückblickte, erschien es ihm wie ein Traum. Er hatte allerdings den Eindruck, nur wenig zu dem Erfolg beigetragen zu haben – als sei er nur der Auslöser für einen wahren Domino-Effekt gewesen. Und dies im positiven Sinne.
Jetzt, mitten in der Rede, die immer wieder von Beifall unterbrochen wurde, fühlte er sich locker und wie unter Freunden – wohl wissend, dass es in dieser unübersehbaren Menge einen gewissen Prozentsatz gab, der ihm nicht wohlgesonnen war.
Sein Blick verlor sich nach wenigen Reihen im Dunkel der Halle, denn er war von den Scheinwerfern geblendet. Immer wieder zuckten die Blitzlichter der Fotografen. Über ihm und auch seitlich gab es Großleinwände, auf die er riesengroß projiziert wurde. Eine Technik, wie sie in allen großen Veranstaltungshallen, aber auch in den Stadien zur Verfügung stand.
Bleibach hatte seine ganz eigene Rhetorik, mit der er seine Zuhörer direkt ansprach, ohne gleich aufdringlich und kumpelhaft zu wirken. Stets war er darauf bedacht, keinerlei Arroganz zu zeigen, sondern sich als einen aus dem Volke zu präsentieren.
Am deutlichsten kam dies zum Ausdruck, wenn es um Ungerechtigkeit ging.
»Ihr werdet kleingehalten, ihr, denen es nicht gelungen ist, ins große Kapital vorzustoßen – die ihr nicht die Gnade hattet, in Luxus und Wohlstand hineingeboren zu werden – durch Erbschaft – also, wie es heutzutage die beliebteste und einfachste Weise ist, einer ehrlichen Arbeit und leistungsbezogenen Entlohnung zu entgehen. Ihr werdet kleingehalten, weil ihr euch nicht als Söhnchen oder Töchterchen dank der ehrlichen Arbeit eurer Väter und Urgroßväter in Lugano oder in der Karibik niederlassen könnt – oder weil es euch nicht gelungen ist, durch gnadenlos rücksichtsloses Auftreten, durch maßlose Selbstüberschätzung oder durch halblegale Tricksereien in einer regierungstolerierten Grauzone nach oben zu drängen. Es ist euch nicht gelungen, weil ihr in die falsche Familie hineingeboren wurdet oder hineingeheiratet habt – oder weil ihr geglaubt hattet, die wahren Werte des menschlichen Zusammenseins würden euch weiterbringen. Deshalb werdet ihr alle, liebe Freunde, kleingehalten durch die vielen staatlichen Mechanismen, die wir als gottgegeben hinnehmen. Ihr sollt gerade so viel haben, dass es euch zum Leben reicht und ihr stets das Bedürfnis habt, euch noch ein bisschen mehr leisten zu wollen. Wie ein Hund, der immer einem Leckerbissen hinterherhechelt. Und weil ab und zu ein Häppchen abfällt, spornt ihn dies zu stets neuen Höchstleistungen an. Er will ja den Leckerbissen, er will ihn – aber der Abstand zu dem saftigen Knochen ändert sich nicht. Für viele Menschen wird dieser Abstand sogar immer größer. Doch aus Verzweiflung rennen sie ihm noch schneller hinterher. Mittlerweile, liebe Freunde, haben viele eingesehen, dass sie machen können, was sie wollen – der saftige Knochen wird ihnen immer schneller weggezogen.«
Beifall und positive Zurufe.
»Dieser saftige Knochen ist für uns der Lohn und die Rente. Und das kleine Häppchen, das uns bei Laune halten soll, sind die lächerlichen Erhöhungen, die – falls es sie überhaupt noch gibt – dann vollmundig als große Wohltaten und Erfolge gepriesen werden. Auch von den Medien, die im Einklang mit der Politik sogar sieben Euro mehr im Monat als soziale Errungenschaft hervorheben. Auch wenn im gleichen Atemzug Steuern
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