Munroys & Makenzies Bd. 1 - Der Ruf der Highlands
merkwürdig reagiert, weil sie sich an ihre Mutter erinnert fühlt, werde ich sie nicht mehr maßregeln. Ich lasse dir in Zukunft die Freiheit, ihr die Liebe zu schenken, die sie einmal von ihrer Mutter bekam. Doch ich bitte dich, nicht mehr einzuschreiten, wenn ich in deinen Augen zu streng mit ihr bin, vor allem nicht in Anwesenheit der Familie. Ich bin der Familienvorstand, und es macht einen schlechten Eindruck, wenn meine zukünftige Frau sich gegen mich stellt. Ich erwarte von dir, dass du nach außen hin immer zu mir hältst und mir nie in den Rücken fällst. Ich für meinen Teil werde mich bemühen, dir weniger Anlass zu geben, an meinen Worten zu zweifeln.«
»Das freut mich«, entgegnete Lili schwach. »Wirst du gleich zu Isobel gehen und ihr das Bild zurückgeben? Ich glaube, das wäre ihr allerschönstes Weihnachtsgeschenk.«
»Ja, das werde ich tun. Ich möchte doch schließlich, dass du glücklich bist. Und ich wünsche mir, dass Isobel wieder zu jenem fröhlichen, unbeschwerten Mädchen wird, das sie einmal war. Aber versprich mir eines: Frag mich nie wieder nach Caitlin!«
»Ich verspreche es.«
Niall beugte sich zu Lili hinunter und küsste sie sanft auf die Wange. »Ich liebe dich, Lili Campbell. Und ich kann es kaum erwarten, dich als meine Frau endlich in den Armen zu halten.«
Er küsste sie noch einmal, diesmal leidenschaftlicher. Sie erwiderte seinen Kuss, und plötzlich stellte sich etwas von dem Gefühl ein, das sie bei ihrem ersten innigen Kuss empfunden hatte. Eine wohlige Wärme durchströmte ihren Körper.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie, als sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten.
»Willst du mich nicht doch zurück zu den anderen begleiten?«, fragte er.
Lili schüttelte den Kopf. Nein, allein die Sorge, dass sich der Zauber in Anwesenheit seiner Familie schnell wieder verflüchtigen könnte, hielt sie davon ab.
»Gut, mein Liebling, ich verstehe dich. Wenn ich allein an Shona denke, die dem Alkohol bereits wieder mehr als kräftig zugesprochen hat. Wenn sie trinkt, hat sie irgendwann ihr Lästermaul nicht mehr im Griff.«
Niall beugte sich noch einmal zu ihr und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. In Lilis Bauch kribbelte es, und sie wünschte sich, er würde sich zu ihr legen, sie streicheln und liebkosen. Sie war bereit und alt genug, sich ihrem zukünftigen Ehemann hinzugeben. Deshalb tastete sie nach seinem Nacken und streichelte ihn fordernd. Doch kaum hatten sich ihre Lippen voneinander gelöst, sprang er unvermittelt auf. »Wir müssen vernünftig sein, Lili«, stieß er mit rauer Stimme hervor. »Nach der Hochzeit haben wir alle Zeit der Welt. Wenn du verstehst, was ich meine …«
Lili zog es vor zu schweigen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Und ob sie wusste, was er meinte. Sie hatte zwar noch keine eigenen Erfahrungen gemacht, aber die Kolleginnen in der Schule hatten ihre Liebesgeschichten gern lang und breit vor den anderen ausgebreitet. Und keine von ihnen hatte je daran gedacht, bis zur Hochzeitsnacht zu warten, erst recht nicht, wenn sie so gut wie verlobt war.
25
Inverness, 25. Dezember 1913
Lili war trotz der fortgeschrittenen Stunde hellwach und voller Unternehmungslust. In den nächsten Stunden würde sie auf keinen Fall schlafen können. Sie stand auf, entkleidete sich und zog ihr Nachthemd an. Im Zimmer war es wohlig warm, denn das Feuer im Kamin prasselte immer noch, und sie benötigte nicht einmal ihr wärmendes Schultertuch.
Da entdeckte sie das rotsamtene Büchlein, das sie auf Caitlins Schreibtisch gelegt hatte, und es überkam sie eine unbändige Lust, ihm die widerstreitenden Gefühle anzuvertrauen, die seit gestern in ihr tobten. Schließlich gehörte es ihr, da Isobel es nicht bekommen durfte.
Lili vermochte sich kaum vorzustellen, dass sie erst eine Nacht unter diesem Dach verbracht hatte. Ihr kam es vor wie Monate. Ach, Mutter, wenn ich dir doch alles erzählen könnte!, dachte sie, während sie sich an den Sekretär setzte. Dann fiel ihr mit Schrecken ein, dass sie gar keinen Füllfederhalter mitgenommen hatte. Der lag in der Schule, und sie hatte vergessen, die Sachen aus ihrem Fach einzupacken.
Schade, dachte sie. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, und sie entsann sich, dass sie darauf einen Füllfederhalter gesehen hatte. Zögernd nahm sie ihn zur Hand, doch als sie mit dem Schreiben beginnen wollte, merkte sie sofort, dass sich alles in ihr dagegen sträubte, Caitlins Federhalter zu benutzen. Sie legte
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