Munzinger Pascha
durchrasende Donner.
Doch der Wanderer fürchtet sich nicht, das Gewitter ist ja so fern. Er ruht und träumt, er sei schon bei seinen Lieben. Da erhebt sich von oben ein Rauschen, wie wenn der Wind durch die Blätter führe. Es wird lauter, gewaltiger, es zischt, es prasselt, es tost, es brüllt, als wenn die bösen Geister heranführen – nun naht es, mauergleich, |82| schäumend und sich überstürzend –, es ist der Waldstrom. Der Bach, vom Regen angeschwollen, ist ein mächtiger Strom geworden, doch seines kurzen Lebens gedenk, stürzt wild und feurig er das Tal hinab; die tiefgewurzelten Sykomoren sinken unter seiner Wucht, und die grasige Ebene wird von Schutt überrollt. Das Wasser füllt das ganze Tal und langt hoch an die Felsen hinauf.
Weh dir, du armer Mann, wohin solltest du entfliehen? Hast du die Flügel des Adlers, hast du die Krallen des Affen, der über dir schwebend deiner Not höhnt? Bist du im Bunde mit den Geistern, daß sie dich forttrügen? Hier ist sie nicht dein Knecht, die Natur, sie ist dein dich vernichtender Feind. – Es ist wenige Jahre her, daß in einem breiten trockenen Strombett ein ganzes Zeltenlager von Beduinen mit Herden und Zelten von einer ungeahnten Sturzflut überfallen und fortgerissen wurde. Hundert Menschen, Tausende von Ziegen wurden seine Beute.
So sind die Tiefländer Abessiniens – feindlich und doch so schön. Wie manchen Tag habe ich in dem schattigen Wald neben der Quelle gelegen und den bunten langgeschweiften Vögeln zugeschaut oder im dichten Dornbusch dem plumpen Nashorn, der spiralhörnigen Antilope aufgelauert!
Aber das alles ersetzt mir nicht die Nähe meiner Lieben, die ich schmerzlich vermisse. Ich hoffe sehr, daß Ihr mir bald ein Zeichen sendet, daß Ihr mich nicht gänzlich vergessen habt, und bleibe immer
Euer Werner
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Der nächste Tag war schon der letzte meiner Preis-Schocker-Reise. Nach dem Frühstück blieben mir noch fünf Stunden bis zum Check-In. Ich beschloß, den Basar in der Altstadt zu besuchen.
»Welcome to Egypt, Sir. Do you need a guide?«
Der Mann, der neben mir herlief, gefiel mir. Sein Gesicht war freundlich, das Gewand himmelblau, die Füße steckten in rosa Plastiksandalen. Brauchte ich einen Führer? Ich dachte an mein Flugzeug, dem gerade jetzt wohl ein rotweiß karierter Tanklastwagen die Flügel mit Treibstoff füllte. Ich dachte an die ›Oltner Nachrichten‹ und den Chef, der mit wachsender Ungeduld auf mein Zingg-Portrait wartete. Und dann dachte ich an Werner Munzinger. »Yes, please. Ich möchte ins Nationalarchiv.« Der Mann mit den Plastiksandalen hieß Assem. Er führte mich hoch zur Zitadelle, von wo einst Munzinger den Sonnenuntergang betrachtet hatte. Wir gingen vorbei an Kuppeln und Minaretten, durchquerten ein paar Tore mit gewaltigen, hochgezogenen Fallgittern und kamen zu einem kleinen Seiteneingang, hinter dem eine schmale Holztreppe hochführte. Am Fuß der Treppe stand ein Tisch, daran saß ein Mann, der uns fragend ansah.
»Assalamu aleikum«, sagte Assem.
»Aleikum assalam«, sagte der Mann. Assem begann zu reden, deutete abwechselnd auf mich und nach |84| Norden, wo Munzinger und ich einst hergekommen waren. Der Mann am Tisch hörte aufmerksam zu, stellte ein paar Fragen und nickte bedächtig. Er schrieb arabische Schriftzeichen auf einen Zettel, reichte diesen Assem und schickte uns die Treppe hoch.
Am Ende der Treppe stand ein Tisch, daran saß ein Mann, der uns fragend ansah. Assem reichte ihm den Zettel, fing an zu reden und deutete auf mich und nach Norden. Der Mann nickte bedächtig, schrieb etwas auf einen Zettel und schickte uns einen langen Flur entlang, an dessen Ende wieder ein Mann an einem Tisch saß. Auf diese Weise besuchten wir acht weitere Männer an acht kleinen Tischen. Der letzte von ihnen unterschied sich insofern von den anderen, als er nichts auf einen Zettel schrieb, sondern aufstand. Er führte uns an meterdicken Mauern entlang durch einen kleinen, sandbedeckten Innenhof, in dem eine winzige Moschee stand. Dann stiegen wir ein paar Treppen hoch und liefen durch ziemlich viele Gänge, bis der Mann vor einer schweren eisenbeschlagenen Tür stehenblieb, etwas zu Assem sagte und uns allein ließ. Assem klopfte und drückte mit beiden Händen die schwere, schmiedeeiserne Klinke nieder. Die Tür ging knarrend auf und gab den Blick frei auf ein offenes Fenster, durch das man tatsächlich den blauen Himmel, ein weißes Minarett und das saftige Grün einer
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