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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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hatten, aber Mutter hatte sich
verändert. Das sollte ich vorausschicken. Ich wusste es in der Sekunde, als sie
bei ihrem Besuch im Krankenhaus die Tür öffnete. Sie stürmte an mein Bett wie
eine Walküre, die zu spät zu ihrem Rotarier-Treffen kommt, besaß nicht einmal
die Höflichkeit, sich nach meinen zahlreichen Verletzungen zu erkundigen,
sondern stürzte sich sofort in einen ausschweifenden Sermon über Verantwortung
und ganzheitliche Diät und die zwölf imaginären Stufen, die unsere Seelen
erklimmen müssten, um den Gipfel von irgendwas anderem zu erreichen. Sie
hatte mich nicht nur ziemlich gereizt, sondern auch dafür gesorgt - da hatte
ich nicht den Hauch eines Zweifels -, dass ich nach Wochen der Bewusstlosigkeit
nicht inmitten von Schokoladenkonfekt erwachte, sondern umzingelt von Obstkörben.
    Die Quelle
dieser Verwandlung war eine mir bis dato unbekannte Wesenheit namens Höhere
Macht. Diese Höhere Macht drehte im
Cedars anscheinend ein ziemlich großes Rad dergestalt, dass sie vermögende
Neurotiker dazu brachte, ihre Laster aufzugeben und ihren Teil der
verschiedenen Bürden des Lebens zu schultern. Während Mutter den
Null-Alkohol-Ansatz offenbar vernachlässigt hatte, war sie doch äußerst
fasziniert von dieser Idee von Pflichterfüllung und dass jeder seinen Teil
beizutragen habe. Schon damals war mir klar, dass das definitiv kein gutes Omen
war für mich und den Versuch, mein Leben als Landedelmann wieder aufzunehmen.
    Die
Hoffnung, die ich heute bei meiner Rückkehr nach Hause gehegt hatte, nämlich
Mutter bis in alle Ewigkeit aus dem Weg gehen zu können, war möglicherweise
etwas zu kühn gewesen. Mit der alten Mutter, der Mutter, die bis zwei oder drei
Uhr nachmittags im Bett lag und sich dann mit einer Flasche Gin in einen
Lehnstuhl im Salon zurückzog, wäre das ziemlich unproblematisch gewesen. Mit
der neuen Mutter war das nahezu ausgeschlossen. Ich war erst zur Mittagszeit
angekommen und benötigte seitdem doch all meinen Grips, um ihr nicht in die
Arme zu laufen. Sie schien über neue, grenzenlose Energiereserven zu verfügen.
Sie war allgegenwärtig, eine ständige Bedrohung. Wohin man ging, sie schien
immer vor einem da zu sein; mit einer Dose Möbelpolitur oder einem
Teppichmusterkatalog oder dem unheilvollen Ringordner mit der Aufschrift
»Projekte«, den sie jetzt immer mit sich herumtrug. Zur Teezeit war ich
ziemlich ausgelaugt. Und jetzt hatte sie mich am Wickel.
    »Das war
vielleicht ein Abend«, sagte sie und griff an mir vorbei nach dem Sherry. »Ich
bin ja so furchtbar stolz auf die Mädchen. Du nicht auch, Charles?«
    »Es war
schön, Bel mal wieder auf der Bühne zu sehen«, sagte ich. »Sie hat ja schon
lange nicht mehr gespielt.«
    »Und diese
schrecklichen, ganz schrecklichen Rowdys, mit denen sie sich da abgeben musste
- wie auf Kohlen bin ich auf meinem Stuhl gesessen. Es war wie eine Reise in
eine Art Unterwelt, findest du nicht auch?«
    »Mmm«,
pflichtete ich mürrisch bei.
    »Und diese
Mirela - was für eine Entdeckung, Charles! Diese Präsenz! Das Mädchen wird es
noch weit bringen. Wenigstens bis zur...« Ihr Verstand schien wieder
einzusetzen. »Aber sie muss unbedingt etwas wegen dieses schrecklichen ... Sie
geht wirklich furchtbar langsam...«
    »Beim
Kirowballett kriegt sie keinen Job mehr, das stimmt wohl.«
    »Allerdings
... man kann es kaum hören, findest du nicht auch? Und wie schön sie ist, so
exotisch!« Sie schenkte sich ein Glas ein. »Wenn Bel ein Auge auf Harry
geworfen haben sollte, wird sie sich jedenfalls ganz schön anstrengen müssen.
Was für ein reizender junger Mann.«
    Ich
schüttete meinen Drink hinunter und wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab.
»So reizend kommt er mir nicht vor«, grummelte ich aufsässig. »Und sonderlich
unterprivilegiert auch nicht. Keiner von denen.«
    »Charles«, sagte Mutter scharf und schaute sich um, ob jemand mitgehört hatte.
»Darum kümmern wir uns zu gegebener Zeit. Wichtig ist jetzt nur, dass ein
Anfang gemacht wird und alles ins Rollen kommt. Dann können wir uns um die
Feinarbeit kümmern und nachforschen, wer unterprivilegiert ist und wer nicht.
Bis jetzt ist es jedenfalls ein bemerkenswerter Erfolg. Ein bemerkenswerter Erfolg.« Sie drehte an einem ihrer Ringe und ließ den Blick über die
Menge schweifen. »Bleibt nur noch die Frage, was mit dir geschehen soll«, sagte
sie.
    »Mit mir?«
    »Richtig,
was sollen wir mit dir anfangen, Charles?«
    Böses
ahnend kratzte ich den Verband rund

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