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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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da schmuggelte ich
mich in eins der Feste meiner Eltern. Als Mutter mich zu Bett brachte, hatte
sie mich wie immer darauf hingewiesen, welch grauenvolle Dinge mir widerfahren
würden, sollte ich mich aus meinem Zimmer stehlen. Aber ich konnte einfach
nicht länger ertragen, nicht zu wissen, was da unten vorging. Also schlich ich
mich kurz nach elf die Treppe hinunter. Wie es das Schicksal wollte, lief ich
direkt Vater in die Arme. Ich dachte, er würde wütend werden, aber er war
aufgeräumter Stimmung und sagte, da ich nun schon mal so neugierig sei, dürfe
ich auch ganz kurz bleiben, vorausgesetzt, ich setzte mich still in eine Ecke
und passe auf, dass Mutter mich nicht zu Gesicht bekam.
    Anfangs
war es so aufregend, dass ich ganz überwältigt war. Der Ballsaal war ein
Dschungel aus teuren Stoffen, in dem der Dunst von einem Dutzend miteinander
vermischter Parfüms hing, die alles Mögliche verhießen, von dem ich keine
Ahnung hatte. Es war dunkel, und doch sah ich überall Licht, wohin ich auch
schaute. Es fing sich in Platten mit geheimnisvollem Essen, es brach sich in
tänzelnden Gläsern mit Shiraz und Sauvignon, es glitzerte auf Halsbändern,
Ringen, Diademen. Wenn man seine Augen halb zumachte, glaubte man, die Luft
vibriere vor Glühwürmchen. Und erst der Lärm! Wer hätte sich vorstellen
können, dass ein Saal voller Erwachsener, die sich über nichts unterhielten,
so einen Krach machen konnte?
    Das
Ungewöhnlichste jedoch waren die dünnen Mädchen, die hier und da zwischen den
umherwandelnden Gästen eingestreut waren. Wie Statuen in einem Park überragten
sie die Köpfe aller anderen Gäste. Sie sahen sehr gelangweilt aus und sprachen
nie. Das waren Vaters Models; sie präsentierten seine neuen Kosmetiklinien,
bevor sie auf den Markt kamen. Sie sollten auch nicht sprechen, das hätte ihre
Wirkung schmälern können. Vater nannte sie seine »Gemälde«: Die Idee war, dass
die Gäste stehen bleiben, sie studieren und dann weitergehen konnten zur nächsten
Gesprächsrunde.
    Wenn ich
sie in den Tagen vor diesen Festen sah, wie sie aus Vaters Arbeitszimmer kamen
und die Treppe hinunterhüpften, sahen sie gar nicht so viel älter aus als ich.
Manche von ihnen waren nett; sie kamen von überall her, obwohl die meisten in
Paris lebten, weil sie in dem dortigen Labor arbeiteten. Doch an diesem Abend
hatte man sie so verwandelt, dass sie nicht mehr wie Menschen wirkten. Sie
verströmten eine apokalyptische Aura, die einem fast Angst machen konnte, als
befänden sie sich außerhalb der Zeit oder als bestünden sie durch und durch aus
einem einzigen Stoff, ohne Blut und Eingeweide. Ihre Augen schauten dich an,
und ihr Blick ging direkt durch dich hindurch. Sie standen in regungslosen
Arabesken mit angewinkelten Armen und Beinen da, stumm leuchtend wie
unbezahlbare, übernatürlich schöne Anglepoise-Leuchten.
    Hin und
wieder verirrten sich Gäste in meine Ecke - hagere Couturiers mit rasierten
Schädeln oder gruselige, sinnlich wirkende Männer mit zerknitterten
Samtanzügen und Brillantine im Haar, die parfümierte Zigaretten rauchten und
die, im Rückblick, auch Frauen gewesen sein könnten. »Oh«, sagten sie, wenn sie
in meine zehnjährigen Augen blickten, »hallo.« Dann zogen sie an ihren
Zigarettenspitzen aus Elfenbein oder machten nervöse Goldfischmünder und gingen
schleunigst dahin zurück, wo sie hergekommen waren.
    Aber wohin
gingen sie, begann ich mich zu fragen, was hatten diese Leute vor? Wann, kurz
gesagt, ging es hier richtig los? Es
dauerte noch lange, bis mir dämmerte, dass dieses Herumgehen und Reden der
alleinige Sinn des Abends war. Ich war bitter enttäuscht. Wenn jetzt die mit
Juwelen behangenen alten Damen vorbeikamen, um mir den Kopf zu tätscheln,
bemühte ich nicht mehr mein bestes Pfadfinderlächeln; ich wusste ja, dass keine
von ihnen sagen würde: Charles, mein Junge, sie bauen gerade
das Trampolin auf, hättest du Lust, als Erster zu springen? Oder: Charles,
wir haben dieses langweilige Fest nur aufgezogen, um einen Spion in die Falle
zu locken. Wir brauchen jetzt eine unauffällige Person, zum Beispiel einen kleinen
Jungen, der ihn oder sie enttarnt.
    Und
worüber die Leute redeten, war noch nicht mal interessant. Die Männer ließen
sich über Prozentpunkte aus oder Herrn Soundso, der es bestimmt nicht schaffen
würde, oder die letzten Rugbyspiele, die sie gesehen hatten. Währenddessen
waren die Frauen ganz hin und weg wegen Yves St. Laurents neuem Abdeckstift,
einem Wunder an

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