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Muscheln für Mutti: Roman (German Edition)

Muscheln für Mutti: Roman (German Edition)

Titel: Muscheln für Mutti: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Dörr
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kramen im Koffer. Ja, die beiden haben tatsächlich nur einen dabei, ihren zweiten haben sie bei der Abfahrt in Hamburg einfach im Hausflur vergessen. Da stellt sich natürlich die spannende Frage, wer die Klamotten des anderen anziehen muss. Der Esel wirft ungeduldig seinen Kopf hin und her.
    » Och, da sind sie ja!« Kurt zieht die Dokumente aus einer Innentasche seiner Jacke.
    » Und warum haben wir jetzt alles durcheinandergewühlt?« Mechthild strafft energisch ihr Outdoor-Oberteil. » Es ist dir ja schon klar, wer heute Abend das Chaos im Koffer beseitigt?!«
    Kurt zuckt unbekümmert mit den Schultern. Der Esel blökt.
    » Nun lass mal deinen Kollegen vorbei«, sagt Mechthild und schiebt ihren Mann zurück in den Bus.
    Je nördlicher wir kommen, desto trister werden die Hausfassaden. Der blanke Beton ist nur mit den rotgelben Fahnen und Bannern der kommunistischen Einheitspartei bekleidet.
    Ich habe mich auf meinem Platz eingerollt, was nicht sonderlich bequem ist, mich aber bestmöglich abschirmt. Jana erklärt vorne am Mikro die tiefere Bedeutung von Tet, dem Neujahrsfest.
    » In den ersten drei Tagen besucht man Familie und Freunde und trinkt überall Reisschnaps. Den man übrigens nicht ablehnen darf.« Jana macht eine Kunstpause. » Wenn man ihn nicht selbst trinken will, muss man jemanden dabeihaben, der ihn trinkt.«
    Gelächter.
    » Es geht doch nichts über die Familie!«, ruft Mutti.
    Ich ducke mich noch tiefer in den Sitz. Das Dumme an einem Bus ist, dass man nicht einfach weglaufen kann.
    » Dieses Jahr ist dem Rind gewidmet, was Gelassenheit mit sich bringen soll«, fährt Jana fort.
    » Und welchem Tier war das vergangene Jahr gewidmet?«, fragt Kristin.
    » Der Ratte«, antwortet Jana.
    » Das war dein Jahr!«, sage ich laut zu Kristin und bäume mich regelrecht im Sitz auf. Wie ein Fisch im Netz, der eigentlich keine Chance hat und dennoch nicht aufgibt.
    Die Landschaft wird nun gebirgiger, die Straße steigt an. Kreidefelsen ragen wie gigantische Fingerhüte aus dem Panorama heraus. Toni, unser vietnamesischer Guide, meldet sich zu Wort.
    » Der Tod ist nicht schlimm, er gilt als Übergang. Die Ahnen werden im Reisfeld begraben, um sie zu haben um sich.«
    » Haha!« Ich unterbreche Toni. » Und beim Pflügen klappert die Uroma grüßend mit ihren Gebeinen oder was? Aberglaube, das ist Aberglaube!«
    » Ruhig, Andi«, sagt Mutti, » nun lass doch Toni mal reden.«
    Ich soll den Mund halten? Ausgerechnet ich, der alles dafür tut, seine Ruhe zu bekommen! Da kann ja gleich das Orchester zum Dirigenten sagen: »Mach nicht so laut mit deinem Stab.«
    Dieser Gedanke bringt mich auf eine Idee. » Leute, ich habe einen neuen Hit für Jürgen Drews: nach ›Ein Bett im Kornfeld‹ nun ›Ein Sarg im Reisfeld‹!«
    » Dabei ändert sich ja eigentlich nur die Blickrichtung auf den Acker«, lacht Kurt.
    » Ja genau«, sagt Mutti eifrig, » erst von oben, dann von unten. Wie bei den Radieschen!«
    Der Bus schwankt, und Jana hangelt sich nun am Mikro von Thema zu Thema.
    » Geburten dagegen sind schlechter besucht als Beerdigungen, weil neues Leben neue Probleme bedeutet.« Volle Windeln, Röteln und Milchzähne kriegen, das kenne ich von meinen Schwestern. Früher lärmte mir ihr Babygeschrei in den Ohren, heute ist es ihr Gelaber.
    Jana scheint sich als Reiseleiterin richtig auszukennen, engagiert lehrt sie uns buddhistische Rituale. » Der beste Start ist, wenn einem zuerst ein hochgewachsener älterer Mann mit großen Ohren ein gutes Neujahr wünscht.«
    » Hier!« Walter fühlt sich angesprochen und steht geschmeichelt auf.
    » Und ich?« Zur Bekräftigung stelle ich mich in den Busgang und ziehe mir an den Ohren.
    » Peinlich, peinlich.« Kristin und Antje krümmen sich auf ihren Plätzen. Ihnen fehlt eben jeder Sinn für Humor.
    » Willkommen, Junior«, begrüßt mich Walter als seine Nachwuchskraft. Quer durch den Bus tun wir so, als würden wir uns zuprosten, und wittern ein segensreiches Geschäft – und viel Reisschnaps.
    Dieser Walter ist echt okay.
    Neben der Schotterstraße liegen die ersten Reisfelder im Wasserbett. Wie viele Tote da wohl begraben sind? Hinter den Äckern thronen haushohe Bambusbäume.
    » Die wachsen bis zu fünf Zentimeter«, erläutert Toni.
    » Im Jahr?«, fragt Mutti.
    » In der Stunde. Darum sind sie Baumaterial für alles.«
    » Oh.«
    Viele andere Pflanzen wuchern neben den Äckern – auch die, aus denen man Opium gewinnt.
    » Allerdings nur zum Hausgebrauch.«

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