Mustererkennung
bin dein Freund, und was ich gerade erlebt habe. Eine halbe Stunde später saß ich in einem BMW mit Blaulicht und drei anderen schwarzen Lederjacken und hab mir ‘ne kleine Sightseeingtour durchs Moskauer Zentrum spendieren lassen, konsequent bei Rot und immer auf der falschen Fahrspur. Und als ich wieder zu mir kam, war ich hoch oben in einer von den Sieben Schwestern, mit Wolkow –«
»Schwestern?«
»Das sind so kleine alte Wolkenkratzer im Zuckerbäckerstil, Kommunistengotik. Absolute Luxusimmobilien. Dein Mr.
Bigend –«
»Bigend?«
»Und Stella. Und ein Trupp Wolkowiter und dieser chinesische Hacker aus Oklahoma.«
»Boone?«
»Der Typ, der sich für Bigend in deine Hotmails eingehackt hat.«
Sie erinnert sich an das Zimmer in Hongo, daran, wie Boone ihren Laptop mit seinem verkabelt hatte.
»Entschuldige«, sagt Parkaboy, »aber der Staub, in dem du dich rumgekugelt hast, enthält bei weitem zuviel Titan. Wahrscheinlich ist dein Belastungsgrenzwert längst überschritten.
Soll ich nicht endlich gehen und den Arzt herholen, damit wir dich zum Hubschrauber bringen können?« Er nimmt die Plastikflasche, trinkt, schraubt sie zu und knöpft sie sich wieder an den Gürtel.
»Titan?«
»Sowjetische Umweltkatastrophe. Nicht so schlimm wie die Austrocknung des Aralsees, aber du bist mitten durch einen fünfundsechzig Kilometer langen, zirka zwei Kilometer breiten Streifen mit extremer industrieller Umweltverseuchung marschiert. Ich glaube, du mußt dringend unter die Dusche, und zwar gründlichst.«
»Wo sind wir hier überhaupt?«
»Ungefähr eintausenddreihundert Kilometer nördlich von Moskau.«
»Was für ein Tag?«
»Freitagnacht. Mittwoch hat’s dich erwischt, und wieder zu dir gekommen bist du, als du heute aufgewacht bist. Ich nehme an, die haben dich mit Sedativa vollgepumpt.«
Sie versucht aufzustehen, aber da ist er auf einmal bei ihr, legt ihr die Hände auf die Schultern. »Nicht! Bleib liegen.« Das komische einäugige Fernrohr baumelt ihr vor der Nase herum.
Er richtet sich auf, dreht sich zu dem grellen Licht herum. Er winkt in Richtung Hubschrauber. »Wenn die nicht diese Nacht-sichtgeräte gehabt hätten«, sagt er und schaut sich kurz nach ihr um, »hätten wir dich womöglich gar nicht gefunden.«
»Was weißt du über das russische Gefängnissystem?« fragt er sie. Sie tragen beide große Headsets aus schmierigem beigefarbenem Plastik mit Mikrophon und grünem Spiralkabel. Die Kopfhörer bieten einen prima Lärmschutz und dämpfen das Dröhnen des Motors, aber wenn Parkaboy etwas sagt, hört es sich an, als ob er in einem ziemlich tiefen Brunnen sitzt.
»Daß das kein Spaß ist?«
»Epidemisches Auftreten von HIV und TBC. Und das ist noch längst nicht alles. Wir sind unterwegs zu einem quasi privatisierten Gefängnis.«
»Privatisiert?«
»Ein kühnes unternehmerisches Experiment neurussischer Prägung. Die hiesige Version von CCA, Cornell Corrections, Wackenhut. Das reguläre Gefängnissystem ist ein Albtraum, eine reale und unmittelbare Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung. Wenn jemand vorhätte, neue, arzneimittelresi—stente Tuberkelstämme zu züchten, könnte er seine Sache schwerlich besser machen als die hiesigen Gefängnisse. Manche Leute glauben, noch ein paar Jahre, dann wird es in diesem Lande hier in Sachen Aids genauso aussehen wie früher beim Schwarzen Tod, und daß die Gefängnisse ihren Teil dazu bei—tragen. Wenn also eine von Wolkows Firmen beschließt, ein Testprojekt zu starten, bei dem gesunde, motivierte Strafgefangene ein gesundes, motiviertes Leben führen und überdies eine Ausbildung und einen Einstieg ins Berufsleben erhalten können, wer sollte sich dem in den Weg stellen?«
»Und dort werden die Clips gerendert?«
»Und was motiviert diese Strafgefangenen? Eigeninteresse.
Erstens sind sie gesund, sonst hätte man sie gar nicht für das Projekt ausgesucht. Wenn sie im regulären System bleiben, sind sie’s nicht mehr lange. Das ist das eine. Das zweite ist, wenn sie hierher kommen, sehen sie, daß sie gar kein so schlechtes Geschäft gemacht haben. Männer und Frauen sind unter einem Dach untergebracht, und das Essen ist wesentlich besser als das, womit eine Menge Menschen hierzulande auskommen müssen.
Drittens werden sie für ihre Arbeit bezahlt. Kein Vermögen, aber sie können was auf die hohe Kante legen oder nach Hause schicken zu ihren Familien. Es gibt dreißig Satellitenkanäle und eine Videothek, und außerdem
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