Mustererkennung
versucht hat. Sie dreht sich um, will nach dem Roller Ausschau halten und merkt, daß sie einen steifen Hals hat und ihr die Bewegung weh tut. Die Bäume und Mauern sind schön, aber nichtssagend, sie hüten ein Geheimnis.
»Sie wollten Ihnen die Tasche wegnehmen? Den Laptop von Blue Ant?«
»Da ist mein Portemonnaie drin, mein Handy.«
Wie auf ein Stichwort hin fängt das Handy an zu klingeln. Sie kramt es heraus. »Hallo?«
»Parkaboy. Du erinnerst dich?«
»Es hat Komplikationen gegeben.«
Sie hört ihn seufzen, dort drüben in Chicago. »Schon gut. Ich stehe auf Aufputschmittel.«
»Wir haben uns getroffen«, erklärt sie ihm und fragt sich, ob Boone Chu die andere Seite des Gesprächs mithören kann. Sie hatte die Lautstärke ganz hochgestellt, wegen des Tokioter Straßenlärms, und bereut es jetzt.
»Weiß ich doch. Er hat nicht mal gewartet, bis er wieder zu Hause war. Ist direkt ins nächste InternetCafé marschiert und hat Keiko sein Herz ausgeschüttet.«
»Ich möchte ja reden, aber das geht erst später. Tut mir leid.«
»Er hat Keiko gesagt, daß er sie dir gegeben hat, also war ich nicht allzu beunruhigt. Schick mir eine Mail.« Klick.
»Ein Freund?« Boone Chu nimmt das Tonic und gönnt sich einen Schluck.
»Cliphead. Chicago. Er und sein Freund haben Taki aufgestöbert.«
»Haben Sie die Zahl?«
Jetzt gibt es keine Ausflucht mehr. Entweder sie lügt ihn an, weil sie ihm nicht traut, oder sie erzählt es ihm, weil sie ihm, relativ gesehen, doch traut.
Sie zeigt ihm ihre Handfläche, die Ziffern in blauer Faser—schreiberschrift.
»Und Sie haben sie nicht im Laptop gespeichert? Niemandem gemailt?«
»Nein.«
»Das ist gut.«
»Warum?«
»Weil ich mir diesen Computer mal anschauen muß.«
Er erklärt ihr, sie seien jetzt in Hongo, unweit der Universität, und läßt das Taxi halten. Er zahlt, sie steigen aus, und als das Taxi losfährt, trifft der Roller ein. »Kann ich bitte meine Jacke wiederhaben?« Boone sagt auf japanisch etwas zu dem Jungen auf dem Sozius. Der zippt die Rickson auf und zieht sie ohne abzusteigen aus. Er wirft sie ihr zu und grinst wenig beruhigend unter dem halb heruntergeklappten Visier des Flammenaugen-helms. Boone zieht einen weißen Umschlag aus dem Bund seiner Jeans und streckt ihn dem Fahrer hin, der ihn nickend in die Tasche des Fishtail-Parkas steckt. Der Roller heult auf, und weg sind sie.
Die Rickson riecht leicht nach Tiger-Balsam. Sie steckt die Tonic-Dose in einen praktischerweise in der Nähe stehenden Recycling-Behälter und folgt Boone mit schmerzender Stirn.
Eine Minute später starrt sie ein dreistöckiges, holzverschaltes Bauwerk empor, das über der schmalen Straße zu schweben scheint, heruntergekommen und unglaublich windig aussehend. Holzverschalt ist nicht ganz das richtige Wort, die silbrigen Bretter sehen aus wie die Lamellen einer riesigen Jalousie.
Sie hat in Tokio so gut wie noch nie etwas wirklich Altes gesehen und schon gar nichts so charmant Vernachlässigtes.
Zerzauste, halbverdorrte, schiefe Palmen flankieren ein Ein—gangstor mit einem dekorativen Dach aus japanischen Ziegeln.
Dahinter wie ein Echo zwei bröckelnde Stucksäulen, die gar nichts tragen. Der einen scheint irgendein Riesenwesen das obere Ende abgeknabbert zu haben. Sie dreht sich zu Boone herum. »Was ist das?«
»Ein Vorkriegswohnhaus. Die meisten sind den Brandbom—ben zum Opfer gefallen. Das hier hat siebzig Wohneinheiten.
Gemeinschaftstoiletten. Ein öffentliches Badehaus einen Block weiter.«
Die Balkone, errät sie, als sie ihm folgt, sind Gestelle zum Lüften von Bettzeug. Sie passieren ein dichtes Gestrüpp von Fahrrädern, gehen drei breite Zementstufen hinauf und betreten eine winzige Eingangsdiele mit türkisem PVC-Boden.
Kochgerüche, die Cayce nicht identifizieren kann.
Eine schlecht beleuchtete, nackte Holztreppe hinauf und einen Gang entlang, der so schmal ist, daß sie hinter ihm hergehen muß. Irgendwo vor ihnen flackert eine einzelne Leuchtstoffröhre. Er bleibt stehen, und sie hört Schlüssel klimpern. Er öffnet eine Tür, betätigt einen Lichtschalter und tritt zur Seite.
Cayce geht hinein, und ihre erste Reaktion ist, daß sie sich an Wins kluge neurologische Erklärung von Déjà-vus zu erinnern versucht.
Seltsam, aber irgendwie vertraut; die Beleuchtung besteht aus ein paar klaren Birnen mit orangefarbenen Glühfäden: Repro-duktionen der Edisonschen Kohlefadenbirne. Das Licht ist sanft, magisch. Das Mobiliar niedrig und
Weitere Kostenlose Bücher