Mustererkennung
orthodoxer Heiligenschrein steht.
Diese riesige, leicht grimmig ausschauende achtspurige Autobahn, erfährt sie aus dem Lonely Planet Moscow, den sie sich in Heathrow gekauft hat, ist der Leningradskij Prospekt, starker Verkehr in beiden Richtungen, aber es rollt. Schwere schlamm-verkrustete LKWs, Luxuslimousinen, viele Busse, und alle wechseln ständig auf eine Art und Weise die Spuren, die Cayce wenig vertrauenerweckend findet, ganz abgesehen davon, daß ihr Fahrer simultan über Kopfhörer mit jemandem zu telefonieren scheint und gleichzeitig mit einem weiteren Paar Kopfhö-
rer, das er darüber trägt, Musik aus seinem CD-Player hört. Sie hat das Gefühl, daß Fahrspur hierzulande ein fließender Begriff ist, genauso fließend vielleicht wie »auf die Straße achten«. Und versucht sich auf den grünen Mittelstreifen zu konzentrieren und auf die wilden Blumen, die dort wachsen.
In der Ferne sieht sie Schornsteine und hohe orangefarbene Gebäude, doch die Schornsteine, aus denen weißer Rauch steigt, ragen irgendwie auf eine völlig ungewohnte Weise zwischen den Hochhäusern empor und suggerieren höchst fremdartige oder vielleicht sogar nicht-existente Konzepte von Zoneneinteilung.
Werbetafeln für Computer, Luxusartikel und Elektronik tauchen auf; je näher sie der Stadt kommt, desto zahlreicher und vielfältiger wird die Reklame. Der Himmel ist wolkenlos und blau – abgesehen von den Schornsteinen und den gelbbraunen Abgasschwaden.
Cayces erster Eindruck von Moskau selbst ist der, daß dort alles viel größer ist, als es sein müßte. Zyklopenartige orangefarbene Klinkerbauten aus der Stalinzeit mit vage kastanien-braunen Ornamenten. Eigens dazu errichtet, die Menschen zu demütigen und ihnen angst zu machen. Aber auch die Later—nenmasten, die Springbrunnen, die Plätze und alles andere ist übertrieben groß.
Als das Taxi die acht Spuren des dichtbefahrenen Sadowoje—Rings kreuzt, geht der hochurbane Faktor noch um ein paar Zacken nach oben, und auch die Reklamedichte nimmt weiter zu. Zur Rechten sieht sie einen riesigen Jugendstilbahnhof, offenbar ein Überbleibsel aus einer noch früheren Ära, aber von Dimensionen, gegen die selbst die grandiosesten Londoner Bahnhöfe zwergenhaft erscheinen. Dann einen McDonald’s, der mindestens genauso groß zu sein scheint.
Es gibt mehr Bäume, als sie erwartet hat, und als sie gerade anfängt, sich an die Dimensionen der Dinge zu gewöhnen, sieht sie kleinere Gebäude, alle auffallend häßlich, die wahrscheinlich aus den sechziger Jahren stammen. Wenn ja, dann sind das eindeutig die schlimmsten Sechziger-Jahre-Bauten, die sie je gesehen hat, und außerdem sichtlich heruntergekommen. Viele werden gerade abgerissen, wirklich überall Gerüste, es wird viel gebaut, und in der Straße, die nach ihrem Plan die Twerskaja sein müßte, herrscht dichtes Gedränge, genauso dicht wie der Kinderkreuzzug, nur daß sich die Leute hier entschlossener vorwärtsbewegen.
Breite Werbebanner sind über die Straße gespannt, und an den meisten Häusern sind oben Reklametafeln angebracht.
Massen von blauweißen Oberleitungsbussen, das klassische Dinky-Toy-Blau, das sie noch nie zuvor bei einem echten
Fahrzeug gesehen hat. Viele davon scheinen ziellos durch die Gegend zu fahren.
Die einzige Erfahrung, die sie bislang mit dem Sowjetischen oder Postsowjetischen gemacht hat, rührt von einem Abend im früheren Ostberlin her, ein paar Monate nach dem Mauerfall.
Wieder im Hotel, im sicheren Westen, hatte sie vor Entsetzen über die offenkundige Grausamkeit, ganz zu schweigen von der holzköpfigen Dummheit dessen, was sie erlebte hatte, beinah geheult und den Drang verspürt, Win in Tennessee anzurufen.
»Diese Drecksäcke haben so lange ihre Bilanzen frisiert, daß sie’s selber schon nicht mehr gemerkt haben«, erklärte er ihr.
Die CIA, sagte er, habe unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Landes die ostdeutsche Industrie evaluiert und festgestellt, sie sei die lebensfähigste im gesamten kommunistischen Block.
»Das kam daher, daß wir uns die Zahlen von denen angeguckt haben. Nehmen wir mal ein Reifenwerk, wo’s an sich ganz gut aussah. Natürlich weit entfernt von unserem Standard, aber besser als in der Dritten Welt. Dann fällt die Mauer, wir gehen da rein, der ganze Laden total runtergekommen. Die Hälfte wird schon zehn Jahre nicht mehr benutzt. Im Grunde schrott—reif. Die haben sich in die Tasche gelogen.«
»Aber sie waren so gemein zu ihren eigenen Leuten«,
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