Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Länder, und so kommt es, dass sich im Heimatkundemuseum Deutsche, Franzosen, Engländer und Japaner auf die Füße treten. Die wenigen Individualreisenden seien Backpacker, so Andrei, für die alles möglichst billig sein müsse. Für die Gruppenreisenden übrigens auch, sonst verdiene ja keiner mehr etwas. In Kontakt mit Touristen kämen die Einheimischen jenseits des organisierten Reiseprogramms nicht. Sie hätten auch den Eindruck, dass die Touristen das gar nicht wollten. Vielmehr hätten sie offenbar Angst, übers Ohr gehauen zu werden. Oder vor etwas anderem? Dabei würden die großen Reiseunternehmen die Touristen übers Ohr hauen. Weil es hier viel mehr zu sehen gebe als das Heimatkundemuseum.
»Ich glaube, dass die Menschen Angst davor haben, es nicht hinzubekommen!« Annas Augen blitzen, und ihre Hände fuchteln in der Luft. Sie steht auf. »Die Menschen haben Angst, sich nicht verständlich machen zu können. Und dass dann jemand über sie lacht. Sie verzichten lieber auf echte Erlebnisse und Begegnungen, statt sich der Gefahr auszusetzen, dass jemand sie nicht versteht. Und dann über sie lachen könnte. Sie wollen sich nicht wie unmündige Kinder fühlen.«
Ich zucke zusammen und fixiere Annas schmales und von tiefen Furchen durchzogenes gebräuntes Gesicht, das scheu und angriffslustig zugleich unter einer ballonartigen grobmaschigen Wollmütze hervorblitzt.
»Dabei sind die Menschen in Sibirien doch so kinderlieb!«, sage ich nachdenklich, aber alle lachen.
Levi hat während des gesamten Barbecues auf meinem Schoß gesessen, die Beine um meine Hüften geschlungen, die Hände in meiner linken Schulter vergraben, mit großen Augen, leicht geöffnetem Mund und vorgereckter Nase. Seit wir die Transsibirische Eisenbahn verlassen haben, sind meine Hüften sein Lieblingsort. Er sucht häufig den Augenkontakt zu mir. Er will sich vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Sooft er es braucht, schaue ich ihm in die Augen, lächle, nicke und streichle abwechselnd über seine Arme, Beine, die neugierige Nase oder den immer hungrigen Bauch. Im Laufe des Abends wird sein Griff manchmal lockerer. Sobald ich mich dann bewege oder gar versuche, ihn abzusetzen, packt er wieder zu.
Als der zehnjährige Sohn Andreis mit seinem Fußball den Garten stürmt, wird Levi unruhig. Seine Hände greifen in die Richtung des Balles, seine Beine klammern sich um meine Hüften. Andrei ist alleinerziehender Vater.
»Meine Exfrau lebt jetzt in der Stadt«, erzählt er und schaut dabei auf den See oder ins Nichts, sodass ich mich nicht traue, zu fragen, in welcher Stadt und wie oft sie ihn und den Sohn besucht. Und wie er seinen Sohn und sein sonstiges Leben unter einen Hut bekommt.
Endlich hält Andreis Sohn Levi seinen Fußball unter die Nase, und Andrei geht Holz hacken.
Als ich gegen 23 Uhr mit dem schlafenden Levi auf meinem Arm auf dem Weg in unser Holzzimmer das zu unserem Chalet gehörige Restaurant durchquere, sitzt dort noch ein Englisch sprechendes Paar und eine fünfköpfige deutsche Reisegruppe mit ihrem russischen Gruppenführer. Eine Deutsche hält ein Bündel DIN-A 4-Papier in der Hand, in dem sie geräuschvoll hin und her blättert. Ein anderes Gruppenmitglied sagt mit lauter Stimme und in Denkerfalten gelegter Stirn: »Ich weiß genau, dass das Abendessen im Preis inklusive ist. Ich habe mir gemerkt, dass jedes Abendessen im Preis inklusive ist. Also bezahle ich hier keine 220 Rubel extra.« Und die Sitznachbarin ergänzt: »Und auch der Museumseintritt morgen ist laut Reiseverlauf inklusive. Ich zahle die 70 Rubel * [70 Rubel entsprechen ungefähr 1,60 Euro.] nicht extra. Auf gar keinen Fall.« Mit der Faust schlägt sie auf den Tisch. Der Reiseführer sagt mit leiser Stimme, dass in keiner Gruppe bisher der Eintritt zum Museum inklusive gewesen sei und dass er noch mit jeder Gruppe das Abendessen extra gezahlt habe, weil es sehr besonderes Essen sei, und dass er sich bei seinem Chef erkundigen werde.
»Außerdem wollen wir lieber zum Tscherskistein aufsteigen, statt ins Museum zu gehen. Bei dem schönen Wetter. Oder geht beides?«
»Beides geht nicht!«, sagt der Reiseleiter.
»Warum nicht?«, fragt Gruppenmitglied Nummer 4.
»Geht halt nicht, ist so nicht vorgesehen! Um 13 Uhr ist schon das Mittagessen fertig«, sagt der Reiseleiter und verabschiedet sich bis zum Frühstück um sieben Uhr.
»Wann möchtest du morgen frühstücken?«, fragt Tara flüsternd, die mit den benutzten Tellern in der Hand
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