Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Moment liegt der See sonnig und leicht gewellt vor uns und vermittelt dabei eine starke Gelassenheit. Die steilen schneebedeckten Berge im Hintergrund und die wettergegerbten Gesichter der Einheimischen mahnen jedoch, nicht zu vergessen, dass der See auch meterhohe Wellen, Stürme und extreme Wetter- und Temperaturwechsel hervorbringen kann, die das Leben hier entbehrungsreich machen und die Menschen an ihre Grenzen bringen können.
Aber unsere Suche hat ja gerade erst angefangen – und uns etwas aufwühlen und durchpusten zu lassen kann sicher nicht schaden. Wir machen ja nicht Urlaub. Wir reisen. Wir haben eine Mission.
Hier auf meinem Balkon aus sibirischer Lärche scheint der Rest der Welt ganz weit weg. Kaum Geräusche außer den vorbeisurrenden Fliegen und Mücken. Keine Menschen, die mich beim Vorbeigehen sanft rempeln, stehen bleiben und kurz plaudern. Das Zimmer neben unserem, mit dem wir den Balkon teilen, ist unbewohnt. Gerade fange ich an, die ersten Stunden der Zweisamkeit mit Levi und die Stille nach fünf kommunikationsintensiven Tagen in Transsibirien genießen zu können – als Tara uns in dem altbekannten Mix aus Englisch, Russisch und Zeichensprachlerisch zum Grillen einlädt: »Fisch oder Fleisch?« Und nach einem Blick auf den jungen Mann ruft sie noch: »In zwei Stunden fertig!« und lacht.
»Was wollt ihr hier eine ganze Woche lang?« Taras Augen mustern mich neugierig und ein bisschen ängstlich, als sie mir neunzig Minuten später einen frisch gegrillten Omul auf den Teller legt.
»Nichts«, sage ich und lächle sie an. Um sie nicht zu verwirren, schiebe ich hinterher: »Mit Baby geht alles langsamer!«
Tara atmet erleichtert auf und hält mir eine Salatschüssel vor die Nase. »Alle anderen Touristen bleiben nur zwei Tage.«
»Und was machen die hier?«, frage ich zurück.
»Heimatkundemuseum und Bootstour. Manchmal kurze Bootstour zum Port Baikal, manchmal mit Landgang und Zugfahrt auf alter Transsibstrecke um das Südufer des Baikal.«
»Klingt gut«, sage ich und biete Levi seine zweite Portion Omul an diesem Tag an.
»Nicht gut mit Levi. Zugfahrt dauert lange und ist nicht komfortabel. Nur eine Toilette im Zug.«
»Levi trägt noch Windeln«, sage ich, und Tara lacht.
Der Reiseführer hatte mich vor Listwjanka gewarnt: Ausflugsziel Nummer 1 am Baikal, boomende touristisch motivierte Bautätigkeit, von wodkapicknickenden Russen überfüllte Strände. Kurzum ein vom Massentourismus zunehmend vereinnahmtes Fleckchen, das maximal als Durchgangsstation empfehlenswert sei. Irgendetwas hatte mich trotz oder vielleicht wegen aller Warnungen dazu gebracht, eine Woche hierzubleiben.
Mit den wodkapicknickenden Russinnen haben wir uns schon einmal sehr wohlgefühlt. Die Vorstellung, die nächsten Tage am Strand liegend, Fisch und Bier vertilgend, mit Levi über die kleinen Baikalwellen hüpfend zu verbringen und, wenn Levi seine zwei Tagesschlafsessions macht, ein Buch zu lesen, treibt mir ein breites Grinsen ins Gesicht. In diesem Moment setzt sich Anna zu uns. Sie ist Belgierin, um die fünfzig, hat ein dickes Buch unter den Arm geklemmt, trägt geringelte Handschuhe ohne Finger und wirkt leicht angetrunken.
»Anna bleibt auch eine Woche hier, wie ihr«, stellt Tara uns vor und rollt dabei ihre Augen, die unter den schweren Lidern ein wenig müde wirken.
»Und was hast du heute gemacht, Anna?«, frage ich.
»Heute keine Tour«, sagt Anna, und Tara schaut mich mit einem Blick an, der verrät, dass Anna noch keine einzige Tour hier gemacht hat. Sie scheint den sibirischen Komfort, sich an einem Marktstand geräucherten oder gegrillten Fisch kaufen oder in einer Hafenpinte Wein trinken zu können, der infrastrukturfreien Einsamkeit und Abgeschiedenheit des Baikalsees nördlich von Listwjanka vorzuziehen.
»Warum hast du einen Fischkutter für deine Weiterreise gechartert?«, fragt mich der Grillmeister, der sich als Taras Sohn entpuppt.
»Weil ich das Wasser liebe und eine Route fahren möchte, die keine Fähre anbietet.«
»Das macht sonst kein Tourist hier«, entgegnet Andrei nachdenklich. Und so erfahre ich, dass die Mehrheit der Touristen in organisierten Gruppen die Region besucht. Die Einheimischen profitieren nur vom Tourismus, wenn sie mit den russischen Reiseunternehmen kooperieren, die ihrerseits wieder mit den ausländischen Reiseveranstaltern kooperieren. Die russischen Reiseunternehmen verkaufen ihre standardisierten Touren an die Reiseveranstalter unterschiedlicher
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