Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
es uns nach einigen Metern wieder ausspuckt, finde ich mich in Gedanken zurück nach Tibet versetzt: Wir stehen auf einem runden Felsplateau von wenigen Metern Durchmesser und blicken auf ein von bunten Gebetsfahnen umwickeltes Geländer, durch das uns das Powerblau des Baikal entgegenstrahlt. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die Gebetsfahnen als Stofffetzen und Taschentücher. Vermutlich verbindet sie einzig die Intention ihres Spenders mit den tibetischen Gebetsfahnen. Den Blick auf die Ufer der Angara kenne ich von gestern aus dem Boot heraus, aber von hier oben steigert sich die Weite der hinter Port Baikal liegenden Wildnis ins Unermessliche.
Gerade balanciere ich meine Kamera vorbei an Levi, der in der Babytrage vor meinem Bauch baumelt, als ein japanisches Gesicht vor meiner Linse erscheint. Ich bitte den Mann, ein Foto zu machen, und er entpuppt sich in der Horde von Japanern, die mit dem neuesten Kameramodell um den Hals durch die Welt reisen, als der Einzige, der von Fotografieren nun wirklich überhaupt keine Ahnung hat. Auf Levianisch erkläre ich ihm die Grundlagen, und irgendwann ist unser Erinnerungsfoto im Kasten: Levi und ich unterhalb des gesicherten Bereiches im steilen Gelände vor dem Baikalsee. Der Japaner verabschiedet sich sichtlich erleichtert und will nicht, dass ich ein Foto von ihm mit seiner Handykamera mache.
»Museum«, sagt der Taxifahrer, sobald er uns die Serpentinenstraße zurück zum See kutschiert, und als wir gegen 15.30 Uhr daran vorbeifahren, bin ich mir sicher, für Levi und mich die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Drei Stunden lang haben wir die Blicke da oben genossen, und jetzt haben wir Hunger. Am Markt steigen wir aus, kaufen neben einem gegrillten Omul zur Abwechslung noch einen geräucherten, legen uns in unseren sibirischen Strandkorb und vertrödeln den Rest des Tages mit Essen und Steinewerfen. Irgendwann schläft Levi in meinen Armen ein. Eine Stunde lang sitze ich regungslos am See und blicke abwechselnd auf meinen Sohn und das glitzernde Wasser. Der Mann, bei dem ich für den Strandkorb bezahlt habe, fragt, ob ich ein Bier möchte, und empfiehlt eine Wanderung um das Kap herum Richtung Bolschije Koty. Wie schön das klingt: Bolschije Koty. Ich danke ihm und freue mich jetzt schon auf unsere Fischkutterfahrt zu diesem nur mit dem Boot oder zu Fuß erreichbaren Ort.
Beim Abendessen kann ich kaum noch die Augen offen halten. Es ist eine echte Herausforderung, mit dem herumwirbelnden Levi mitzuhalten, und so bin ich dankbar, als er auf Taras Arm in die Küche verschwindet.
Mit leuchtenden Augen und krümelverziertem Mund bekomme ich ihn einige Minuten später wieder. Langsam frage ich mich, warum sibirische Kinder alle so schlank sind. Bei dem Kekskonsum kann man doch nur kugelrund werden? Auf jeden Fall scheinen die Kekse beruhigend zu wirken, denn Levi schläft schon auf der Treppe zu unserem Zimmer mit dem Kopf auf meiner Schulter ein.
Super, endlich habe ich mal einen richtig langen Abend nur für mich. Nur ganz kurz lege ich mich neben meinen leise schnarchenden Sohn. Meine Arme und Beine werden bleischwer. Mein Kopf hat keine Lust, sich von dem geblümten Baumwollkissen zu erheben. Also bleibe ich liegen und zähle die Astlöcher an der Decke.
Obwohl Levi und ich mittlerweile ein eingespieltes Reiseteam sind, bin ich abends oft richtig erschöpft. Ich verstehe das nicht, denn mein Eindruck ist, dass ich in München »mehr« mache als hier. Hier reise ich ja und arbeite nicht. Hier verbringe ich meine Zeit mit Levi und nicht mit Mitarbeitern, Kunden oder Dienstleistern. Warum bin ich dann abends so erschlagen?
Den Tag heute zum Beispiel haben Levi und ich im Wesentlichen mit Rumhängen verbracht: Am Tscherskistein und am Strand. Und wir haben zusammen gespielt. Levi hat sich 500 000-mal an meinen Händen in den Stand gezogen. 750 000-mal habe ich ihn gerade noch davon überzeugen können, den Baikalstrandstein doch lieber zu werfen als zu essen. 500-mal war der Stein schon in seinem Mund, und ich erfand viele verschiedene kreative Möglichkeiten, ihn wieder herauszubefördern, ohne mir von Levis zweieinhalb Zähnen allzu schmerzhaft in die Finger beißen zu lassen. Ansonsten habe ich sechsmal Windeln gewechselt, fünfmal gefüttert und dreimal selbst gegessen. Achtmal habe ich Levi getröstet: Einmal hatte der Wind ihm seine Kapuze vom Kopf geweht, und einmal hatte eine Dogge den krabbelnden Levi wohl mit einem kleinen Hund verwechselt und
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