Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Mindestens 50 Kilogramm zu viel auf den Rippen und stark geschminkt. Ihre stattliche Erscheinung ist in einen Tigerprintmantel aus Plastik gehüllt, unter dem schwarze Hosenbeine und weiß-pinke Laufschuhe herauszwinkern.
Irgendwann zwinkert auch ihr linkes Augenlid, mutig gegen das Gewicht des blau-silbrigen Lidschattens ankämpfend.
Während ich mir noch unschlüssig bin, ob ich Lust auf Konversation habe, lacht Levi mit Schnuller im Mund zurück. Daraufhin holt die Dame eine flache Wodkaflasche aus dem Inneren des Tigers, schraubt den Verschluss auf, prostet Levi zu, setzt die Flasche an ihre pinken Lippen, die mich an den Mund von Reich-Ranicki erinnern, trinkt und stellt die offene Flasche auf den Tisch, neben eine jungfräuliche Tasse Cappuccino. Dass die Menschen hier in Restaurants Hochprozentiges aus dem Ärmel zaubern, habe ich schon öfter beobachtet. Irgendwie erinnert mich das an Australien, wo man den eigenen Wein mit in Restaurants bringen darf, schön verpackt natürlich in einer braunen Papiertüte und gegen Bezahlung eines Korkgeldes.
Derartig gestärkt, verschwindet Joans rot bekrallte Hand erneut im Tiger, um mit zwei Kekskringeln wiederaufzutauchen. Mit geschürzten Lippen erhebt sie sich schwerfällig und beugt sich zu Levi vor. Während ich noch befürchte, dass sie ihr Gleichgewicht verliert, grapscht Levi sich einen der mindestens vier Zentimeter durchmessenden Kringel und stopft ihn komplett in seinen Mund.
Rein äußerlich ähnelt er nun mit seinem durch den Keks nach vorn geschobenen Mund und den dadurch riesig wirkenden Lippen der Spenderin, die vor Freude gurrend wieder neben ihrem Wodka Platz nimmt.
Levi presst die Lippen aufeinander. In seinen Augen lese ich die Hoffnung, ich könnte die Beute übersehen, und das Wissen, dass diese Hoffnung unbegründet ist. Mit einem Lachen rettet er sich aus seiner Zerrissenheit, und ich stimme ein. Wenn ich all die Süßigkeiten essen würde, die er in Sibirien zugesteckt bekommt, könnte ich ohne Zug in die Mongolei rollen.
Levi kämpft mit dem Kringel, wild entschlossen, ihn nicht an mich zu verlieren. Jedoch: Der Keks ist für seine zweieinhalb Zähne zu hart und zeigt sich auch resistent gegenüber seinen Speichelattacken. Was schon was heißen will. Kurzum: Das Gebäck lässt sich in Levis Mund nicht zerkleinern. Um meinen Sohn vor dem Erstickungstod zu bewahren, hole ich unter lautstarkem Protest seinerseits und Joans wachsamen Augen das Teil aus Levis Mund. Sekunden später steht Joan mit zwei neuen Kringeln bewaffnet neben uns. Ich sage Nein. Levi greift zu. Joan gurrt.
Die nächste Runde gewinne ich. Levi schaut traurig drein, und Joan schiebt alles auf mich: »Mama, Mama«, ruft sie anklagend, und ich lache dazu. Der Milchschaum auf ihrem Cappuccino ist in sich zusammengesunken, die Flasche daneben fast leer. Versöhnlich legt sie mir eine Pranke auf die Schulter. Die langen massiven Goldketten um ihren Hals streifen meine windfeste Gorejacke. In lautem Ton und nicht ohne Drama ergießt sie einen Schwall sicher gut gemeinter Worte über uns und verlässt das Lokal.
Wow! Die zweite starke Frau, der wir heute begegnet sind!
Im Lichtstrahl der Kopflampe packe ich unsere Sachen zusammen für Bolschije Koty. Plus acht Grad, starker Wind und Regen sind für morgen vorhergesagt. Ich kann es kaum erwarten, auch körperlich zu spüren, was heute passiert ist: durchrütteln und Kopf freipusten.
Egal, was ich sonst noch mitbringe an Erkenntnissen von dieser Reise, eines ist mir plötzlich klar: Levi hält mich davon ab, zwölf oder mehr Stunden pro Tag in meinem Büro zu verbringen. Und das ist gut so. Denn: Ich fand es schon immer blöd, Arbeitsquantität mit Arbeitsqualität zu verwechseln. Und jetzt weiß ich auch, warum: Nicht nur, dass die Arbeitsqualität irgendwann zwischen 20 und 24 Uhr zwangsläufig leidet. Dieses Arbeitsethos führt dazu, dass es immer weniger Kinder gibt. Und immer mehr unglückliche, einsame, unsportliche Menschen.
Levi fordert mich dazu auf, endlich in die Tat umzusetzen, was ich eh schon lange vorhabe: à la Tim Ferriss meinen Bürojob in vier Stunden pro Woche oder meinetwegen auch vier Stunden pro Tag zu erledigen. Und den Rest in zeitlich flexible kreative Projekte zu investieren.
Und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Er ist der tägliche Beweis dafür, wie armselig eine Erfolgskultur ist, die nur mit Kinderlosigkeit oder altmodischem Lebensstil – Papa macht Karriere, Mama kocht zu Hause oder kümmert
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