Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Reiseveranstalter vor ihr stehe. Aber gut. So war der Deal mit mir selbst.
Aufgeregt und in Aufbruchstimmung verlasse ich mit Levi in der Babytrage das Hotel und stolpere über eine Dame im Rollstuhl.
Eine deutsche Entschuldigung entwischt meinem Mund, und so erfahre ich, dass sie auch aus Deutschland kommt und auch mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs ist. Mit zwei Freunden und einem Übersetzer.
Mutig, denke ich und beiße mir selbst auf die Zunge.
»Ganz schön mutig, dass Sie hier mit Baby unterwegs sind«, reißt die Dame mich aus meinen Gedanken.
»Nicht mutiger als Sie«, sage ich.
Kurz schauen wir uns nachdenklich an. Dann müssen wir gemeinsam lachen.
»Wenn ich reise, fühle ich mich mitten im Leben. Zu Hause fühle ich mich manchmal an den Rand gedrückt. Und dann weiß ich, ich muss wieder los!«, sagt sie.
»Geht mir genauso!«, sage ich und setze mich auf die Bank neben ihr.
Ich erfahre, dass die Transsibirische Eisenbahn mit einer hydraulischen Einsteigeplattform für Rollstuhlfahrer ausgestattet ist und die Gänge gerade breit genug sind für ihren Sportrollstuhl. Und wenn nicht, hätte es sicher eine Lösung gegeben. Seit ihrem Unfall sei sie Expertin im kreativen Umschiffen von Stolpersteinen. Die Barrieren im Kopf seien schlimmer als die faktischen. Oft entpuppe sich ein Stolperstein auf den zweiten Blick als wunderbare Chance. Von daher habe sie sich Gelassenheit verordnet. Für ihre Reisen. Für ihr Leben generell. Und für die Menschen.
Leider reist sie morgen schon weiter nach Ulan-Ude. Dort, wo meine Reiseroute nach rechts Richtung Mongolei abzweigt, während sie geradeaus weiterrattert durch die Mandschurei bis nach Wladiwostok. Außerdem ist sie, wenn wir in einer guten Woche in den Zug steigen, schon fast wieder auf dem Weg Richtung Deutschland. Wir werden uns also unterwegs nicht wieder begegnen. Schade.
Dafür hat sie jetzt Zeit für einen Tee: Ihre Mitreisenden sind im Heimatkundemuseum. Sie ist für einen Moment aus dem gemeinsamen Programm ausgebüxt, um auf eigene Faust eine Rundfahrt durch den Ort zu machen. Dazu blitzen ihre Augen: »Alleine und abseits des Geplanten erlebt man die spannendsten Geschichten! Also erzähl: Warum machst du diese Reise?«
Später am Nachmittag sitze ich mit Levi auf unserer blauen Hafenkneipenterrasse. Anna aus Belgien holt sich gerade die zweite Flasche Wein von der Theke: diesmal rot.
Einige Sätze der abenteuerlustigen Rollstuhlfahrerin hallen in meinem Kopf nach: Sie habe gelernt, ihr Leben nicht darauf auszurichten, möglichst nah an das Leben der Laufenden heranzukommen. Und dass sie seit ihrem Unfall erst das Gefühl habe, richtig zu leben. Und: dass sie mehr erlebe, mehr reise, mehr wage als die meisten ihrer laufenden Freunde.
Während ich so vor mich hin grüble, beobachte ich Levi, wie er auf seinem roten Plastikstuhl steht, sich an der Lehne festhält und den vorbeituckernden Fischerbooten zusieht. Bestimmt schon seit zwanzig Minuten. Manchmal gefällt ihm etwas so gut, dass er hin und her tanzt und ich Mühe habe, mit meinen Füßen seinen Stuhl auszubalancieren.
Die Begegnung mit der Rollstuhlfahrerin hat Bewegung in unsere Mission gebracht: Es geht nicht darum, etwas hinzubekommen. Es geht darum, mein Leben daraus zu machen. Es geht nicht darum, mit Rädern laufen zu wollen. Es geht darum, mit den Rädern zu rollen. Levi ist kein Stolperstein, er hält mich von nichts ab, weder in meinem Leben zu Hause noch auf Reisen. Es geht nicht darum, mit ihm alles so zu machen, wie es vorher war. Levi gibt mir eine weitere Chance in meinem Leben, wieder mal alles zu hinterfragen: Möchte ich das wirklich, oder ist es nur eine blöde Gewohnheit?
Er ist die personifizierte Aufforderung zur Kreativität.
Wie wunderbar!
Und noch etwas habe ich heute gelernt: Meine Welt entsteht tatsächlich in meinem Kopf. Aber was bedeutet das jetzt für unser Leben in München?
Keine Ahnung.
Da wir erst knappe drei Wochen unterwegs sind, beschließe ich die Frage des Zurückkommens zu vertagen und es meinem Sohn nachzumachen: Ich schaue auf den See. Ein schmieriger Nebel liegt zwischen Himmel und Wasser. Die Sonne ist ein milchiger Fetzen hinter grauer Folie. Ein neuer kalter Wind weht schräg auflandig und lässt mich meine Mütze tiefer in die Stirn ziehen.
Die sibirische Grande Dame vom Nebentisch lächelt nun schon gefährlich lang zu uns herüber: graue hochtoupierte Mähne à la Joan Collins, nicht mehr zu ihren besten Zeiten.
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