Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
sich um Papas Steuererklärung – aufrechtzuerhalten ist. Hier könnte zwar die Frauenquote helfen: Man müsste bei einer relevanten Quote von sagen wir 40 Prozent auch Menschen in Führungspositionen bringen, die sich nicht an dieses altmodische Karrieredenken verkauft haben. Dann würde man hoffentlich – wie beispielsweise in Skandinavien – feststellen, dass auch Menschen, die ein Leben neben dem Job haben, wertschöpfend tätig sein können. Vielleicht sogar mehr als ausgebrannte Maschinen auf zwei Beinen. Weil sie es noch haben: das Feuer in den Augen. Und vielleicht würden sich darüber auch die Werte in unserem Wirtschaftssystem ändern. Vielleicht.
Aber darauf können wir nicht warten.
Ich kuschle mich neben meinen Sohn, genieße die Wärme seines kleinen Körpers. Was für ein schlaues Kerlchen er doch ist!
Durchschütteln und Kopf freipusten
Ich sehe sie schon von Weitem. Eine Person auf einem Bootssteg vor gewaltigen Bergen voller Birken. Und obwohl ich nicht erkennen kann, ob es sich um einen Mann oder eine Frau, um einen alten oder jungen Menschen handelt, spüre ich: Dieser Mensch ist wichtig für uns.
Meine Hände krallen sich um die blaue Reling aus Metall. Die Sonne strahlt, der starke Wind bläst mir ins Gesicht, und die Gischt spritzt schulterhoch. Die zwei massiven Holzbänke im Heck des Bootes, die für Touristen gedacht sind, hat der Wind wie Spielzeugmöbel herumgewirbelt, bis einer meiner zwei Kapitäne sie an der Reling festgebunden hat. Jetzt wehren sie sich wie Gefangene am Marterpfahl und klappern mit den Füßen.
Wir sind wieder unterwegs. Das angestrengte Rollen des Bootsmotors, der den 30 Meter langen Metallkoloss durch zwei bis drei Meter hohe Wellen und starke Strömung arbeitet, erobert meinen Körper. In mir vermischen sich Bootstuckern und Adrenalin zu dem Gefühl von Abenteuer und Freiheit, das ich zum Leben brauche. Die Zweifel, die Sorge, der Respekt vor Bolschije Koty hat der Wind davongetragen und mir eine aufregende Vorfreude gelassen, die mich mit den Füßen trippeln lässt wie die gefesselten Holzbänke.
Zuerst hatten Levi und ich hinter unseren zwei jungen Kapitänen in der Kajüte Schutz vor den Elementen gefunden. Vor uns auf dem Tisch standen Cornflakes, Frischkäse, Scheiblettenkäse, Lebkuchenbällchen, zwei benutzte Teetassen und ein Funkgerät. Ich stellte Levis Flasche und Schnuller dazu und schoss ein Foto. Kaum hatte der Fischkutter seine rumpelige Fahrt begonnen, war Levi in einen tiefen, ruhigen Mittagsschlaf gefallen. Obwohl mein Sohn in langer Unterwäsche aus Merino und Seide, Pulli, Hose und Fleeceanzug steckte und aussah wie ein Kind des Michelin-Männchens, wollte ich ihn nicht der nassen Kälte vor der gut schließenden Kajütentür aus Metall aussetzen. Meine Füße scharrten und mein Blick floh über das hölzerne Schiffssteuer hinweg und durch das gischtverschmierte Fenster, vorbei am Mast mitten hinein in die Wellen und die windzerzauste Uferlandschaft. Ich wollte raus.
Geh ruhig, wir passen auf Levi auf, signalisierte mir der zweite Kapitän mit roten Haaren und grauer Schirmmütze.
Konnte der Gedanken lesen? Oder sah er in meinen Augen die Seefahrergene? Sah er, dass ich, kurz nachdem wir in See gestochen waren, den Entschluss gefasst hatte, diesen Fischkutter für eine Woche oder länger zu mieten und den gesamten See abzutuckern? Wenn nicht auf dieser Reise, dann bei einer meiner nächsten. Sah er, dass ich mich hier auf diesem zerbeulten Kahn wohler fühlte als in allen Hotels dieser Welt zusammen, in denen ich die letzten zehn Jahre genächtigt hatte? Und es waren wirklich schöne Hotels dabei gewesen.
Also ließ ich den schlafenden Levi auf der Wolldecke im Leopardenprint zurück, schob unsere Reisetasche und den Rucksack davor und versuchte zu erklären, dass Levi sich manchmal im Schlaf bewegte und sie dann bitte aufpassen und mich holen sollten.
Jaja, kein Problem. Die beiden jungen Männer schienen keine Berührungsängste mit Babys zu haben.
Und jetzt stehe ich hier, an der Reling, lasse mich vom Wind und den Wellen durchschütteln und fixiere diese Person auf dem Bootssteg, an dem wir in wenigen Minuten anlegen werden. Es ist eine Frau in roter Fleecejacke und zylinderartiger roter Mütze mit langen gelben Bändern auf dem Kopf. Darunter ein breites Lachen. Ein geflochtener roter Zopf baumelt bis zum Po. Eine Mischung aus Clown und Elfe. Eine Kreative, eine Künstlerin, freue ich mich. Nur die nüchterne Brille aus
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