Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
träumen auch nicht alle von der Welt hinter den Birken? Vielleicht gefällt es einigen Menschen hier? So wie Natascha?
Der mongolische Waggonschaffner steckt seine Nase in unser Abteil und reicht Bettlaken herein. Er zeigt auf Levi und mir seine plaquereichen Zähne inklusive Zahnfleisch. Fragt, ob ich Tee möchte.
Routiniert beziehe ich eine Bank, bette Levi hinein, verteile die Milchmischutensilien auf dem Tischchen unter dem Fenster zwischen den zwei Bänken, klemme Spielzeug in die Ablage zwischen unterer und oberer Bank, schlürfe Tee und begrüße das Rattern wie einen alten Freund.
Der Tod reist mit
Der Zug ist das komplette Gegenstück zum Baikalexpress : nur Touristen. Ganz viele junge Backpacker aus Holland, der Schweiz und Österreich in Partylaune. Und eine Handvoll Deutsche jenseits der sechzig mit schweren Kameras und meist ernstem Gesicht.
Stefan bleibt als Erster nicht ganz freiwillig vor unserer geöffneten Abteiltür stehen: Levi hat ihm den Weltenball vor die Füße geworfen. Der neue Mitspieler zeigt sich erst perplex über den kleinen transsibirischen Reisenden, dann anerkennend über unseren Mut. Er nimmt auf dem Klappstuhl im Gang gegenüber Platz, und wir plaudern: Er ist mit seiner Freundin Claudia in Zürich in den Zug gestiegen. Sie fahren bis nach Kathmandu. Er hat für sechs Monate ein Sabbatical genommen, Claudia gerade ihr Studium beendet. Sie sind auf der Flucht vor der Routine zu Hause. Und auf der Suche nach Inspiration für ihr Leben nach der Reise. Stefans Augen strahlen eine Tiefe und Ernsthaftigkeit aus, dass ich spüre, dass er wirklich sucht. Nach Sinn. Nach Veränderung.
Ich erzähle von unserer Familienmission.
Stefan schaut mich eine Weile schweigend an. »Du experimentierst mit deinem Leben«, platzt es dann aus ihm heraus. »Mit eurem Leben.« Und seine Augen lachen dazu.
»Mit unserem Lebensstil«, antworte ich.
»Du reist also, um euren Lebensstil zu finden. Weiterzuentwickeln. Mit Levi. Reist du immer mit Mission?«
Ich denke kurz nach, um dann zuzugeben: »Ich glaube schon.«
»Kannst du dich nicht einfach mal treiben lassen? So ohne Sinn einfach Urlaub machen?«
»Stundenweise schon. Aber grundsätzlich: Ich glaube nicht. Die Welt ist so voller Anregungen. Irgendetwas in mir fängt dann sofort an zu arbeiten. Pläne zu schmieden. Ich kann mich nicht einfach nur an den Strand legen und all diese Ideen, die ich haben könnte, wenn ich nur richtig reiste, an mir vorbeiziehen lassen. Deshalb ist es eigentlich auch egal, wo ich wohne. Egal von wo, ich muss immer wieder los.«
»Ganz schön anstrengend, oder?«
»Mein Motor. Ich glaube, dass die Antworten auf meine Fragen irgendwie in der Welt angelegt sind. Ich muss nur hinreisen und offen sein.«
»Du glaubst also, dass die Orte dieser Welt Antworten auf unterschiedliche Fragen bereithalten? So nach dem Motto: Sie wissen nicht weiter, also reisen Sie. Ist Ihr Thema die Krise in der Partnerschaft: Reisen Sie nach x! Finden Sie in Ihrem Job keine Anerkennung: Reisen Sie nach y!«
»So ungefähr.«
»Und das funktioniert?«
»Bei mir schon. Bisher.«
»Wie suchst du die Orte zu deinen Fragen aus?«
»Zu Beginn intuitiv. Mit meiner zunehmenden Reiseerfahrung mehr und mehr bewusst. Zumindest kann ich Reiseart und Regionen ganz gut einkreisen vorab. Ich spüre, was passt. Und was nicht.«
Wir sitzen uns eine Weile schweigend gegenüber. Dann erzählt Stefan, dass er vor einem Jahr schon einmal mit dem Zug aufgebrochen war. Allein. Er kann bis heute nicht genau sagen, warum. Er habe nur gespürt, dass er aufbrechen müsse. Mit dem Zug. Richtung Osten.
In der Ukraine hatte man ihn aus dem Zug geworfen und in ein Krankenhaus zwangseingeliefert: Er hatte starkes Fieber und sah auch ansonsten nicht gut aus. Im Krankenhaus fand man dann nichts. Hielt ihn aber fest, weil er ja nicht so gut aussah.
Claudias Eltern fuhren in etlichen Stunden von Zürich in das Ukrainer Krankenhaus, entführten den Freund ihrer Tochter und fuhren über holprige Straßen in Windeseile zurück nach Zürich. Dort stellten die Ärzte Löcher im Darm fest, und Stefan wurde notoperiert. Knapp überlebte er die Aktion.
Mit leuchtenden Augen erzählt Stefan, dass er den Tag, als er aus der Narkose erwachte, als seinen zweiten Geburtstag feiert. Außerdem habe er sich an diesem Tag geschworen, nur noch mit vollem Herzen zu leben. Sinnvolles zu tun, keine Zeit mehr mit Meetings und Menschen zu vertrödeln, die einmal Freunde waren. Und den
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