Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
notwendigen Alltagsmist zu genießen. Heute sei er fast dankbar für diese Nahtoderfahrung.
Ich habe auch so eine Geschichte erlebt, behalte sie aber für mich. Ich habe daraus mitgenommen, dass ich mich jeden Tag aufs Neue für oder gegen etwas entscheiden kann. Dass ich nichts wirklich muss. Das besondere Bewusstsein für das Leben, das aus jeder Pore meines Gegenübers strömt, bringt mich erneut dazu, zu hinterfragen, ob ich diesem geschenkten zweiten Leben wirklich gerecht werde.
Nach einigen schweigsamen Minuten entscheide ich mich erst einmal dafür, die Gesellschaft von Stefan und Claudia zu genießen und über alles Weitere später nachzudenken.
Die Luft draußen ist schmierig-grau. Wir rattern vorbei an schneebedeckten Bergen. An grünen Holzhäusern mit gelben Fenstern. Und lachsfarbenen Holzhäusern mit blauen Fenstern. Plötzlich wird es hektisch in unserem Waggon. Die Stehplätze an den Gangfenstern werden knapp, und nur mit Mühe kann ich mit Levi noch einen Klapphocker mit Blick ergattern. Der Zug fährt eine lang gezogene Linkskurve, und Kameras werden gezückt. Ich schiebe die quer über die untere Hälfte des Fensters gespannte grauweiße Gardine zur Seite. Die Freude eines unverhofften Wiedersehens mit einem guten alten Freund hüpft mir ins Herz: der Baikalsee. Ein Blick auf die Karte gestern Abend hätte mich in Vorfreude schwelgen lassen. Aber nein: Ich hatte keine Ahnung, dass wir uns heute begegnen. Diesen Eindruck bekommen also Transsibreisende, die nicht in Irkutsk aussteigen, von diesem wunderbaren See: geräucherte Holzhäuschen mit Wellblechdächern und verbogenen Antennen. Zu kunstvollen Gebilden verstrickte Stromleitungen verbinden windschiefe Strommasten. Dann einsame Küste, nur ein weißer Lada-Jeep mit offenen Türen auf grobkieseligem Boden. Einige grün-gelbe Grasfetzen lockern das graue Gemisch aus Steinen, Himmel und Wasser auf. Aus dem Nichts taucht ein blaues kleines Ruderboot auf, an dem sich drei Männer mit Wollmützen zu schaffen machen.
Und dann ist er wieder weg. Die Kameras verschwinden. Wir fahren durch hügelige grün-gelbe, von Bächen durchzogene lichte Buschlandschaft. Die Plätze an den Fenstern werden wieder frei. Nur Levi und ich sitzen noch auf unserem Hocker, als Michael vor uns stehen bleibt.
»Ich muss unbedingt meine Frau zu euch schicken!«, sagt er.
»Warum?«
»Damit sie sieht, dass man auch mit Kindern solche Reisen machen kann.«
Michael und seine Frau versuchen, schwanger zu werden. Sie sind aber ganz froh, dass es vor dieser Reise nicht geklappt hat, weil sie nicht gewusst haben, ob sie die Reise in freudiger Erwartung noch auf sich genommen hätten.
»Nach der Reise ist vor der Reise«, sage ich, und wir müssen lachen. Michael beobachtet eine Weile mit verzücktem Baldvaterblick, wie Levi auf dem Zugboden spielt. Alle paar Minuten putze ich seine pechschwarzen Hände mit Feuchttüchern. Kein Vergleich zu den hygienischen Verhältnissen unter Olga. Wirklich nicht.
»Wenn er das überlebt, überlebt er alles!«, sagt Michael lachend und verabschiedet sich Richtung Ehefrau.
Grenzübertritt Russland –Mongolei
Wir halten in Ulan-Ude, und ein paar Burjaten und Mongolen mischen sich unter die westeuropäisch geprägte Reiseschar. Die Wolkenschicht macht Platz für einige Streifen strahlendsten Blaus. Wir brausen vorbei an einem glitzernden See und durch sandiggelbe Grassteppe: Nach sechs Tagen Transsib ist die Landschaft zum ersten Mal zum Luftanhalten schön.
Ich will raus, ich will laufen, ich will schreien vor Aufregung – und der Schaffner verteilt Formulare für den herannahenden Grenzübertritt in die Mongolei. Auf Russisch.
Stefan, Claudia und ich beschließen, die Formulare nicht auszufüllen. Wie denn auch? Wir können alle kein Russisch. Ein bisschen unheimlich fühlen wir uns schon dabei: Rebellion kommt in Russland sicher nicht gut an.
Das holländische Paar zwischen meinem Abteil und dem der Züricher entscheidet sich für das Holländisch-Russische Wörterbuch. Unser Waggonschaffner verschließt die Toiletten, die Kohlen im Samowar verfärben sich von Rot zu Schwarz, und der Zug hält: Nauschki. Grenzstation.
Der Schaffner sammelt unsere Pässe ein, und ich hüpfe mit Levi in der Babytrage auf den Bahnsteig: Eine ellenlange rot-gelb gekachelte Fläche, gesäumt von strahlend weißen Gebäuden, breitet sich vor uns aus. Ein Bahnsteig, der das Vorhandensein einer mittelgroßen prachtvollen Stadt ankündigt. Umso skurriler
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