Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
das Gefühl, als Levi und ich den Bahnhof verlassen, um ein wenig durch den Ort zu bummeln: Der Ort existiert nicht. Ein kleiner Park, ein Lebensmittelgeschäft und eine rumpelige Sandstraße. Und eine Horde Transsibtouristen. Ein Gefühl wie mit dem Kegelverein auf dem Mars gelandet.
Ich laufe zurück zum Bahnhof und setze mich in einer windgeschützten Ecke in die Sonne. Mindestens zwei Stunden, wenn es schlecht läuft, fünf Stunden Aufenthalt prognostiziert der Reiseführer. Eine unbestimmte Handbewegung und ein Plaquelächeln mit ganz viel Zahnfleisch schenkt mir unser Schaffner auf meine Frage nach der Weiterfahrt und unseren Pässen.
Irgendwann mache ich das, was alle machen: Ich bitte jemanden, von Levi und mir vor dem Zug ein Foto zu schießen, und trotte dann zum Lebensmittelgeschäft. Ich kaufe, was alle kaufen: Bier und Schokolade, setze mich wieder auf den Bahnsteig und übe mit Levi laufen. Ich höre kein Signal, sehe aber, dass nach drei Stunden alle Passagiere wieder in den Zug strömen, also strömen wir mit. Das holländische Paar hat vier Zeilen ausgefüllt, als der Schaffner die englischen Formulare doch noch findet und mit Schweiß auf der Stirn verteilt. Gerade drückt er mir den Zettel in die Hand, als am anderen Ende des Ganges mit einem scheppernden Knall die Tür aufspringt: Eine strenge uniformierte Dame mit Schiffchenhut und Aktentasche marschiert durch unseren Waggon. Gefolgt von zwei jungen, militärisch gekleideten Männern mit Schäferhunden. Raustreten aus dem Abteil, nicht reden und ernst schauen ist angesagt.
Jedes Abteil wird durchsucht. Wonach, ist mir nicht klar. Selbst die Teppiche im Gang werden umgedreht. Ein beißend kalter Wind weht plötzlich durch unsere bunte Reisegemeinschaft. Und Levi gluckst dazu. Der Stimmungswechsel geht komplett an ihm vorbei.
Wir sind als Letzte an der Reihe. Als die Beamtin Levi sieht, brechen die harten Gesichtszüge auf. Ihre Mundwinkel hüpfen nach oben, ihre Augen werden ganz groß, und eine sanfte Melodie von Variationen des Wortes malinki umhüllt uns. Auch russische Grenzbeamtinnen haben ein weiches Herz, wenn es um Babys geht.
Unser Abteil ist in Sekunden durchsucht. Die Beamtin drückt mir unsere Pässe in die Hand, und mein Sohn darf zum Abschied einen Schäferhund streicheln.
Entgegen allen Erwartungen unserer Mitreisenden macht Levi auch vieles einfacher auf dieser abenteuerlichen Reise.
Geschenkte Zeit
Es ist sechs Uhr in der Früh. Unser gesamtes Gepäck ist verstaut. Levi steckt in seinem Fleeceanzug, liegt angeschnallt im Maxi-Cosi und schläft. Die Toiletten sind verschlossen. Der Samowar ist so gut wie erloschen und produziert nur noch kaltes Wasser. In freudiger Erwartung der Einfahrt in den Bahnhof von Ulan-Bator. Um 6.35 Uhr. Aber: Der Zug steht. Jetzt schon. Seit zehn Minuten.
Ich sitze im Gang, die Tür zu unserem Abteil einen Spaltbreit geöffnet. In den anderen Abteilen höre ich hektisches Packen. Einigen Reisenden kommt die Verzögerung gerade recht. Im Gang ist noch alles ruhig. Nur ich und das sanfte Licht der aufgehenden Sonne über den zart geschwungenen, mit strohig gelbem Gras bewachsenen Hügeln der Mongolei. Und ein metallisches Geräusch. Schraubt da jemand?
Der Gang füllt und leert sich. Die anderen liegen wieder in ihren Abteilen und lesen. Oder schlafen. Nur ich sitze immer noch im Gang und beobachte die Sonne, wie sie sich langsam hinter der Hügelkette am Horizont hervorarbeitet. Das matte Strohgras bekommt einen goldenen Anstrich. Und in weiter Entfernung kann ich zwei weiße Kreise erkennen: die ersten Jurten!
Levis Opa hatte mich kurz vor unserer Abreise angerufen: »Zuerst dachte ich, du spinnst. Aber ich habe recherchiert. Ich denke, dass es spannend und positiv ist für Levis Entwicklung zu sehen, dass Menschen nicht nur in Häusern leben, wie es sie in Deutschland gibt. Dass es unterschiedlichste Arten von Dächern über dem Kopf gibt. Die alle ihren Zweck erfüllen.«
Levi wird es nicht nur sehen. Die nächsten Nächte werden wir in Jurten leben. Mit Markus.
Der Zug steht jetzt schon seit über einer Stunde. Der mongolische Waggonschaffner schimpft und stöhnt vor sich hin, lässt sich aber zu keiner Prognose hinreißen.
Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Vorfreude auf die Mongolei, auf Markus und der Dankbarkeit über die geschenkten Stunden in Transsibirien. Vor dem Türspalt, hinter dem Levi immer noch selig schlummert, tigere ich auf und ab: Ob unser transsibirischer
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