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Mutproben

Mutproben

Titel: Mutproben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole von Beust
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zur Routine geworden. Ich versuchte Kompromisse immer schon zu antizipieren, um unnötige Debatten zu vermeiden und dem lästigen Gerangel aus dem Weg zu gehen. Um Zeit zu gewinnen. Und vielleicht war es auch eine gewisse Abgebrühtheit, die ich mir angeeignet hatte. Bei einem Teil der Grünen hingegen war die Freude am Debattieren noch sehr lebendig. Und irgendwie übertrug sich diese neue Begeisterung auf unsere Koalitionsverhandlungen.

    Zwar waren die Grünen durchaus emotionale Kämpfer für ihre Positionen, im Kern war ihre Politik aber immer schon rational begründet. Während alle anderen Parteien die Klimaentwicklung außer Acht ließen, setzten die Grünen gerade dort ihren Fokus und machten dies zum Markenzeichen ihrer Politik. Die Notwendigkeit der Verknüpfung der Themen der Ökonomie und der Ökologie, aber auch den Stellenwert
der Bildungsthemen haben die Grünen viel früher gesehen als alle anderen. Heute gehört das wie selbstverständlich zum Portfolio jeder Partei. Die Grünen allein haben diese Themen gesellschaftsfähig gemacht, erst sie haben dafür eine Aufmerksamkeit geweckt. Allerdings waren sie auf der anderen Seite zu optimistisch, was die Aufgaben der Integration anging, und zu idealistisch, wenn um die Bedeutung der inneren Sicherheit gerungen wurde.

    Wegen meiner Sympathien für die Grünen wurde mir teilweise etwas Chamäleonhaftes nachgesagt. Erst Schill, dann die Grünen, das sähe doch alles sehr machtopportunistisch aus. Natürlich, in der Politik geht es um Macht! Doch die Relevanz von Themen hatte sich ebenso geändert. Die gesellschaftlichen Diskussionen waren andere geworden. Als ich in der Politik anfing, Verantwortung zu tragen, war ich eher liberal orientiert. Ich war für die Privatisierung von allem, was in Staatshand war. Hierbei war ich vor allem stark geprägt vom angelsächsischen Modell des Liberalismus, das die freien Märkte propagiert und den Staat nur auf das Minimale konzentriert. Das berühmte freie Spiel der Kräfte. Ich glaubte an die Verantwortung der Einzelnen und an das natürliche Regulativ des Marktes. Aber je länger ich in exekutiver Verantwortung stand und bestimmte wirtschaftliche Entwicklungen beobachtete, desto skeptischer wurde ich. Heute bin ich daher nicht mehr jener Liberale, der ich damals noch war.
    Vor allem die Diskussion um die Privatisierung des Landesbetriebs »Krankenhäuser«, die für mich damals aus fiskalischen
Gründen interessant war, hat mich nachdenklich gestimmt. Wir hatten die Privatisierung der Krankenhäuser damals gegen einen Volksentscheid durchgesetzt und die Mehrheit der Anteile an den privaten Betreiber Asklepios abgegeben. Lediglich 25,1 Prozent blieben bei der Stadt Hamburg. Ich hatte die deutsche Mentalität der Sehnsucht nach staatlich garantierter Sicherheit und Geborgenheit unterschätzt, ein Gefühl, das tief ins bürgerliche Lager hineinreicht und das letztlich erhebliche Proteste gegen unsere Entscheidung provozierte. Ich war fest davon überzeugt, mit dieser Entscheidung sei der Stadt am besten gedient. Die Diskussionen zogen sich bis ins Jahr 2004 hinein und ich spürte, dass die Verantwortung des Staates, unabhängig vom Ökonomischen, für die Menschen in unserem Land eine weite Dimension hat.
    Hinzu kam die Erfahrung, was aus staatlichen Unternehmen wird und was die Konsequenzen der Privatisierungen sind. Im Fall der ehemaligen HEW, der Hamburgischen Elektrizitätswerke, die an Vattenfall verkauft wurden, erlangte Vattenfall plötzlich ein Quasi-Monopol. Bis auf das Einstreichen der Privatisierungserlöse war diese Veräußerung also weder ökonomisch noch gesellschaftlich von Vorteil gewesen. Als dann noch die Diskussion um die Privatisierung der staatlichen Wohnungsgesellschaft aufflammte, spürte ich, dass sich die Menschen existentiell bedroht fühlten. Viele Städte hatten das bereits hinter sich, auch sozialdemokratisch geführte Städte. Wohnen ist für die meisten Menschen mehr als nur ein Wirtschaftsgut, es ist ein Teil von Heimat und Sicherheit. So stellte ich mich dagegen. Es war ein Reifeprozess. Eine Entwicklung
aus exekutiver Erfahrung, die ich als Politiker von Tag zu Tag sammelte. Als im Jahr 2008 die Bankenkrise über uns hereinbrach und Lehman Brothers die Märkte an den Rand des Zusammenbruchs steuerte, da wurde mir endgültig bewusst, dass sich der Markt eben nicht selbst regeln kann, sondern staatliche Regularien benötigt. Ich denke, dass Politiker sich haben täuschen lassen von

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