Mutproben
einem Ideal des Kapitalismus und von liberalen Positionen, die von den Befürwortern des sich selbst regulierenden Marktes postuliert wurden, die aber nicht der Natur des Menschen entsprachen, und ebensowenig unserer mitteleuropäischen Tradition vom gesellschaftlichen Miteinander. Ich denke, dass die Krise 2008 vielen die Augen geöffnet hat, wieder mehr auf die eigenen Werte zu schauen und auf die Errungenschaften dieses Kontinents.
Natürlich habe ich im Laufe meines Arbeitslebens meine Meinungen verändert und den Gegebenheiten angepasst. In gesellschaftlicher Hinsicht war ich immer ein Liberaler und sehe mich auch heute noch als solcher. Was aber die Funktion des Staates angeht, da habe ich meine Position geändert. Hier bin ich staatsbejahender geworden. Dass ich aber unter Ronald Schill ein Rechter gewesen sein soll, weil ich mit ihm koaliert habe und auf die Innere Sicherheit gesetzt habe, wie manche Kritiker heute meinen, und dass ich dann später unter den Grünen zu einem Linken wurde, das ist Unsinn. Ich halte es im Übrigen auch für eine Frage des Intellekts, sich nicht auf starre Positionen zu berufen, sondern offen zu bleiben für neue Entwicklungen.
Meine letzte Amtszeit
Mein Vater hatte eine gewisse Sympathie für die Grünen übrig. Er mochte keine Spinner, also Leute, die, wie er sagte, »verblasenes Zeug« redeten. Das fand er furchtbar. Aber er mochte durchaus die Idealisten und hatte auch selbst immer Freude an Neuem. Vor allem mochte er originelle Personen, Menschen, die nicht angepasst waren. In diesem Sinn hat er mich auch ermutigt, die Grünen mit in meine Überlegungen einzubeziehen.
Einen Monat vor der Wahl 2008 starb mein Vater mit 89 Jahren, kurz vor seinem neunzigsten Geburtstag – und kurz vor der »heißen« Wahlkampfphase. Gerne hätte ich noch sein Gesicht gesehen, als ich einige Monate später als erster CDU-Ministerpräsident eine Koalition mit den Grünen schloss. Er war in alle meine Entscheidungen eingeweiht und stand mir immer beratend zur Seite.
Die Begleitumstände des Todes meines Vaters waren für mich dramatisch. Ich verbrachte gerade eine Woche im Ostseebad Warnemünde. Mit einem Freund war ich auf Besichtigungstour im Auto unterwegs und hatte mein Handy im Hotel gelassen. Als wir am Abend zurückkehrten und an der Rezeption vorbeikamen, empfingen mich meine Freunde Wolfgang Peiner, der ehemalige Finanzsenator, und seine Lebensgefährtin Susanne. Aschfahl saßen beide in der Lobby, und als sie mich erblickten, kamen sie auf mich zu, umarmten mich und informierten mich über den Tod meines Vaters am frühen Vormittag. Über Handy hatten sie mich nicht erreichen
können, und so hatten sie im Hotel auf mich gewartet in der Sorge, ich könnte vielleicht aus dem Radio davon erfahren. Diese Art der Übermittlung wollten sie mir auf jeden Fall ersparen.
Mir riss die Nachricht von seinem Tod den Boden unter den Füßen weg. Mein Vater war meine wichtigste Ansprechperson gewesen. Mit ihm hatte ich nun plötzlich meine wichtigste Stütze verloren. In den Monaten vor seinem Tod hatten wir noch viel miteinander gesprochen, über die mögliche Koalition mit den Grünen, aber auch sehr allgemein über meine Amtszeit. Mein Vater war immer der Meinung gewesen, dass in einer politischen Spitzenposition zehn Jahre genug seien. Um immer beobachtet im Mittelpunkt zu stehen, dafür sei das Leben viel zu kurz. Wir waren uns einig, dass ich eine vollständige weitere Amtszeit und einen weiteren Wahlkampf – mein fünfter als Spitzenkandidat – nicht gewollt hätte.
In den Koalitionsverhandlungen nahm mich einmal Anja Hajduk zur Seite. Sie war damals die Verhandlungsführerin der Grünen und bat mich nun darum, ihr zu versichern, dass ich mich nach erfolgreichen Gesprächen und einer vereinbarten Koalition zwischen Schwarz und Grün nicht »vom Acker« machen würde. Es hatten sich Gerüchte breitgemacht, dass ich mit dem Gedanken spielte, entweder nach Berlin zu gehen oder ganz aufzuhören mit der Politik. Frau Hajduk betonte, dass diese Gespräche sehr an meine Person geknüpft seien und ob mir das bewusst sei. Ich gab ihr also mein Wort weiterzumachen. Allerdings mit der Einschränkung, dass ich
nicht sagen könne, ob ich bei der nächsten Wahl im Jahr 2012 noch einmal antreten würde. Ich versprach ihr jedoch, dies frühzeitig bei den Grünen zu thematisieren, sollte ich meinen Rücktritt vor Ablauf der Legislaturperiode vorbereiten. Kurzfristig würde ich mich sicher nicht
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