Mutproben
Leitkultur zu hören. Aber die Formulierung einer solchen ist nicht die richtige Zielsetzung. Vielmehr geht es darum, Werte zu definieren für ein gemeinsames und friedfertiges Zusammenleben. Mit klaren Positionen. Zu unseren gesellschaftlichen und geschichtlichen Erfahrungen gehört, dass Toleranz, Respekt, die Achtung jedes Einzelnen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau unveräußerlich sein müssen. Durchsetzen können wir das mit Hilfe von Gesetzen. Doch die inneren Einstellungen lassen sich nicht erzwingen. Man muss sie überzeugend vorleben, sie selbstbewusst vertreten und für sie werben. Befehlen kann ich sie nicht, schon deshalb, weil auch der offene Diskurs Teil einer freien, lebendigen und modernen Gesellschaft sein muss.
Die Islamkonferenz, die Wolfgang Schäuble vor einigen Jahren in seiner Funktion als Innenminister ins Leben gerufen hat, war ein Anfang. Inzwischen haben wir mit Frau Böhmer eine engagierte Staatsministerin für Integration, die im Hintergrund arbeitet. Generell geht es jedoch noch zu viel um Symbolik. So wurde auf der ersten Islamkonferenz darüber
diskutiert, dass die Fernsehhelden in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht immer nur Deutsche sein sollen. Am Beispiel des Tatorts und anderer Krimis hat sich gezeigt, dass man das ändern kann. Ebenso kann man die Bemühungen in der Kulturförderung beobachten, dass heute vermehrt Filme und Bücher prämiert werden, die Migrantenthemen aufgreifen. Das alles ist wichtig und vernünftig. Doch dann kommt ein Sarrazin-Buch, die Republik steht für vierzehn Tage Kopf, fast alle Politiker sagen, ja, da gebe es vielleicht ein Problem, man müsse hier mehr machen. Und danach tritt wieder Ruhe ein und das Thema ist ebenso schnell wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden, wie es aufgegriffen wurde – bis zum nächsten Knall.
Meiner Meinung nach wird dieses Thema viel zu harmlos eingestuft. Uns fehlt es an eindeutigeren Strukturen und an klaren Kompetenzen für ein Problem, das in den kommenden Jahren immer gravierender werden wird. Wir brauchen lediglich einen Blick in die Grundschulen zu werfen, um festzustellen, dass mittlerweile 50 Prozent aller Kinder einen Migrationshintergrund haben. Hier geht es nicht um eine abstrakte Fiktion, die alle zwei Jahre mal an die Öffentlichkeit gezerrt wird, um dann wieder in der Mottenkiste zu verschwinden. Wir stecken mittendrin und müssen rasch eine Lösung finden.
Doch bei aller Kritik: Dies kann nicht nur die Aufgabe des Staates sein. Alle sollten sich in der Pflicht sehen. Integration wird als entscheidende Daueraufgabe in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen. Das liegt daran, dass wir uns gegenseitig
zu sehr abschotten. Und das gilt für alle. Es gibt noch immer kaum Berührungspunkte mit Menschen anderer Kulturen. Kaum eine deutsche Familie hat enge Verbindungen zur türkischen Gemeinde, und türkische Familien haben häufig keinen Draht zum deutschen Teil der Gesellschaft. Vielleicht überschneidet sich das Leben mal in einem Sportverein oder am Arbeitsplatz. Aber wirkliches Zusammenleben findet hier nicht statt. Jeder von uns sollte schauen, wo er etwas für das Zusammenleben tun kann – ob in den Parteien, in einer Stiftung oder in der Volkshochschule. Es geht darum, auf andere Menschen zuzugehen, Kontakte zu knüpfen, sich für den anderen zu interessieren.
Politik schafft die Rahmenbedingungen, in denen sich die Menschen bewegen können. Insofern müssten schon die Kitas und Krippen für Integration sorgen. Es braucht einen länderübergreifenden Sprachtest vor der Schule. In Ballungsgebieten müssen Teilungs- und Förderstunden für Jugendliche ermöglicht werden, um auf individuelle Stärken und Schwächen besser eingehen zu können. Wir brauchen Quoten im öffentlichen Dienst und ähnliche Abkommen mit den Unternehmen. Überdies sollten Pakte mit Kammern und Verbänden geschlossen werden, die die Ausbildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund fördern. Und wir brauchen in den Städten einen Wohnungsbau, der Stück für Stück die Entghettoisierung herbeiführt durch gezielte Eigentumsmaßnahmen, durch günstigen Wohnraum für Studenten und junge Familien in diesen Vierteln. Also: Mehr Konkretes, weniger Sarrazin.
Mut und Proben II – Oder wie die Bildung unser Land verändern kann
Ich kam zu einer Zeit auf das Gymnasium, als es hierfür noch Zulassungsprüfungen gab. Etwa sechs Wochen, nachdem ich den Test absolviert hatte, überbrachte der Briefträger
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